Großbritannien II:Der Exit vom Brexit ist möglich

Richter des Europäischen Gerichtshofs senden ein politisches Signal nach London: Die Tür zur EU steht immer noch offen.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

British Government Delays The Meaningful Vote On Brexit

„Rettet den Brexit“: Eine Frau demonstriert in London für den Austritt aus der EU.

(Foto: Getty)

Wer bisher glaubte, Richter arbeiteten in einem Elfenbeinturm weitab der politischen Welt, den hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg gerade eines Besseren belehrt. Ein schottisches Gericht hatte dem EuGH im September die juristisch durchaus knifflige Frage vorgelegt, ob Großbritannien seinen Brexitantrag eigentlich einseitig wieder zurückziehen könne. Im Eiltempo haben die Luxemburger Richter das Verfahren durchgezogen und eigentlich eine Punktlandung hingelegt. Denn an diesem Dienstag sollte das Unterhaus in London ursprünglich über das Austrittsabkommen entscheiden; nun soll die Abstimmung wohl verschoben werden. Jedenfalls haben die obersten EU-Richter beherzt juristische Bedenken beiseite geschoben ein politisches Signal auf die Insel gesendet: Ja, der Exit vom Brexit ist auch einseitig möglich - die Briten können die Sache noch abblasen.

In Artikel 50 des EU-Vertrags steht nichts dazu, ob man den Antrag zurückziehen kann

Rechtlich ging es um Artikel 50 des EU-Vertrags, der in dieser Angelegenheit nicht eindeutig ist. Dort sind zwar die Voraussetzungen des Austritts geäußert. Aber ob man den Antrag einfach wieder zurückziehen kann oder ob dann doch die Uhr tickt, davon steht dort nichts. Der Bielefelder Professor für Europarecht, Franz Mayer, hatte im Vorfeld des Urteils erläutert, warum die Sache komplizierter ist, als man auf den ersten Blick meinen könnte: Wenn man heute den Austritt und morgen den Rückzug davon erklären könne, dann liege darin ein gewisses Missbrauchspotenzial. Die anderen EU-Staaten könnten unter Druck gesetzt werden, wenn ein Staat das Austrittsverfahren einseitig in der Hand habe. Tatsächlich hatte auch der EU-Generalanwalt dem EuGH vergangene Woche vorgeschlagen, zwar den einseitigen Rückzug vom Brexit zu erlauben. Doch auch er drang darauf, rechtliche Vorkehrungen gegen einen Missbrauch zu treffen.

Der EuGH dagegen hat die Briten nun noch deutlicher zur Rückkehr eingeladen. Solange die Austrittsvereinbarung noch in Kraft sei, dürfe ein Mitgliedstaat seine Absicht überdenken, und zwar bis zum Ablauf der Zwei-Jahres-Frist - oder sogar darüber hinaus, falls die Frist verlängert werde. Ein Plazet der übrigen EU-Mitglieder sei dafür nicht erforderlich. Einzige Voraussetzung: Der Rückzug müsse auf der Grundlage eines demokratischen Prozesses basieren, im Einklang mit den Vorgaben des nationalen Verfassungsrechts. Und der Antrag müsse schriftlich gestellt werden.

Interessant an dem Urteil ist : Der EuGH führt zur Begründung sozusagen die doppelte Identität von EU-Mitgliedern ins Feld, die Staaten sind, aber zugleich einem Verbund angehören, der gar nicht so weit von einem bundesstaatlichen Gebilde entfern ist. Auf der einen Seite verweist der Gerichtshof die nationale Souveränität der Staaten. Die "souveräne Natur" des Rechts auf Austritt aus der EU unterstütze die Schlussfolgerung, dass Staaten dann auch den Austritt widerrufen dürften. Ein Staat bleibt also ein Staat, souverän und selbstbestimmt - EU hin oder her. An diesem Status ändere sich durch die Austrittserklärung erst einmal nichts.

Andererseits argumentiert der Gerichtshof aber auch mit der zweiten Natur - mit dem Status Großbritanniens als EU-Mitglied. Zweck der EU-Verträge sei eine immer engere Union. Damit aber wäre es unvereinbar, einem Mitglied, das nach ursprünglicher Austrittserklärung doch lieber im Club bleiben möchte, die Rückkehr zu versperren. Soll heißen: Ziel ist immer noch der Erhalt der EU, wie sie gedacht war; einen Abschied irgendwie zu begünstigen, wäre damit nicht vereinbar.

Die Briten sind damit daran erinnert worden, dass die Tür zur EU immer noch offen ist. Der Gerichtshof merkte übrigens an: Die Frage nach einem Exit vom Brexit sei keineswegs hypothetisch, sondern relevant.

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