Großbritannien:Epischer Neuanfang

Die Suche nach der nächsten Labour-Führung steht vor dem Abschluss. Der künftige Parteichef heißt wohl Keir Starmer. Dem alten Vorsitzenden Jeremy Corbyn weint kaum einer nach, für manche war er der schlechteste aller Zeiten.

Von Cathrin Kahlweit, London

Sir Keir Starmer Addresses Leadership Campaign Rally

Wer führt Labour? Keir Starmer ist der aussichtsreichste Kandidat.

(Foto: Hollie Adams/Getty Images)

Um zwölf Uhr mittags war es schließlich vorbei: Die Urnen für die Briefwahl wurden am Donnerstag geschlossen, nach vier langen Monaten war die Kür einer neuen Labourspitze zu Ende. Fast zumindest: Nun fehlt nur noch das große Finale. Am Samstag sollen, per Videoschalte, den Parteimitgliedern und der Öffentlichkeit endlich Chef oder Chefin plus Vize der nach wie vor größten linken Partei Europas vorgestellt werden.

Noch im vergangenen Sommer hatte Labour mehr als 500 000 Mitglieder und einen Parteichef gehabt, der sich Hoffnungen darauf machte, eine Wahl gegen Brexit-Premier Boris Johnson zu gewinnen. Jeremy Corbyn, 71, wollte Großbritannien auf einen dezidiert linken Kurs steuern - samt Verstaatlichungen, Steuererhöhungen für Reiche und üppigen Investitionspaketen. Über das Programm bestand weitgehend Konsens, nur was den Brexit angeht, war die Partei komplett zerstritten: austreten, den Austritt ganz absagen, ein zweites Referendum anberaumen?

Corbyn entschied sich für einen seltsamen Mittelweg: Er verkündete, nach langem Gezerre, er sei neutral und wolle, nach seinem Sieg, mit Brüssel einen neuen Deal aushandeln, der dem Volk dann zur Abstimmung vorgelegt werde.

Das alles ist Geschichte. Johnson gewann im Dezember haushoch, und bei Labour wuchs die Wut über eine vergeigte Kampagne sowie einen überforderten Parteichef. Der trat noch vor dem Jahreswechsel zurück, blieb aber kommissarisch im Amt. Die Übergangsphase zog sich hin. Corbyn durfte in Unterhaussitzungen noch ans Rednerpult treten - aber sein Erbe verteidigen, das durfte er nicht mehr. Das musste nun die Kandidatin der Parteiführung tun, die Corbyn und seine Anhänger ausgesucht hatten: die junge Schattenwirtschaftsministerin Rebecca Long-Bailey aus dem Raum Manchester, die immer eng mit Corbyn zusammengearbeitet hatte.

Die Nachrede auf Corbyn in der Partei ist desaströs

Im Rennen blieben außerdem nur noch zwei andere Kandidaten: Lisa Nandy, Mitte-Links-Bewerberin und Abgeordnete aus dem Wahlkreis Wigan, sowie Keir Starmer, Abgeordneter aus London. Die Frage, ob in Zukunft weiterhin der linke Corbyn-Kurs oder aber ein eher zentristischer, sozialdemokratischer Kurs verfolgt werden solle, zeitigte seltsame Blüten: So wurden die Bewerber der leadership challenge vor allem daran gemessen, ob und wie weit sie sich von der Corbyn-Ära distanzierten.

In Interviews wurden die Kandidaten etwa aufgefordert, auf einer Skala von eins bis zehn zu bewerten, wie sich Corbyn geschlagen habe. Long-Bailey gab ihrem Chef anfangs eine zehn; er sei einer der ehrlichsten und prinzipientreuesten Politiker, die sie kenne. Nach massiver Kritik wegen fehlender politischer Unabhängigkeit relativierte sie die Aussage.

Schatten-Außenministerin Emily Thornberry, die es später nicht auf die endgültige Kandidatenliste schaffte, gab dem Labour-Chef hingegen null Punkte. Ihm habe die wichtige Fähigkeit gefehlt, Wahlen zu gewinnen; der letzte Labour-Sieg unter Tony Blair liege nicht umsonst 15 Jahre zurück. Zudem habe er den Antisemitismus in der Partei nicht ausreichend bekämpft. Ganz anders ließ sich Keir Starmer, 57, Menschenrechtsanwalt und Schatten-Brexitminister, ein: Er habe keine Zeit für solchen Unsinn.

Zuletzt interessierten sich nicht mehr viele Briten für das epische Ringen um eine neue Parteispitze. Außerdem hatte die Corona-Krise alle Debatten ins Netz verbannt. Und der mutmaßliche Nachfolger von Jeremy Corbyn stand, wenn man in die Partei hineinhörte, ohnehin schon ziemlich fest: Es dürfte, allen Umfragen zufolge, Keir Starmer sein.

Zwar hatte sich die Partei-Nomenklatura dringend eine Frau aus dem Norden des Landes gewünscht, um ein Zeichen für einen Neuanfang zu setzen. Aber für Long-Bailey, der anfangs noch gute Chancen eingeräumt worden waren, erwies sich das Image als Corbyn-Epigone als allzu belastend. Dessen Anhänger beklagten bis zuletzt, der noch vor wenigen Jahren umjubelte Labour-Chef, der viele, vor allem junge und linke Wähler anzog, sei von "konservativen Mainstream-Medien regelrecht hingerichtet worden".

Jeremy Corbyn selbst hatte erst vergangene Woche im Unterhaus den Premier gemahnt, nicht über ihn zu sprechen, als sei er schon tot; er habe vor, sich weiter einzumischen. Aber die Hochphase seiner Popularität, als der Sozialist aus Islington mit seiner Vorliebe fürs Radfahren und für Schrebergärten als freundlicher, nahbarer Linker gefeiert wurde, sind lange vorbei. Der Labour-Abgeordnete Corbyn war jahrzehntelang Hinterbänkler im Unterhaus gewesen, hatte sich für Befreiungsbewegungen in aller Welt eingesetzt und den Dritten Weg von Blair bekämpft. Als er zur großen Überraschung selbst seiner Anhänger 2015 die damalige leadership challenge gewann, gab es sofort eine heftige Abwehrreaktion der alten Kräfte; Corbyn musste sich zwei Jahre später erneut einer Abstimmung stellen. Er gewann sie wieder.

Mittlerweile ist die Nachrede in der eigenen Partei desaströs. Am Tag, an dem der Kampf um seine Nachfolge endete, rief ihm sein Parteifreund Neil Coyle in der Parlamentszeitung The House nach: "Corbyn war der schlechteste Parteichef, den wir je hatten."

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