Großbritannien:Die "nickenden Hunde" begehren auf

Johnsons radikaler Brexit-Kurs könnte im eigenen Kabinett zur Revolte führen.

Von Matthias Kolb und Alexander Mühlauer, Brüssel/ London

Britain's Prime Minister Boris Johnson arrives at Downing Street in London

Die Uhr läuft: Spätestens beim EU-Gipfel am 17./18. Oktober müsste Boris Johnson eine Einigung erreichen, um den harten Brexit zu verhindern.

(Foto: Henry Nicholls/Reuters)

In London kursiert eine neue Liste. Auf ihr stehen die Namen von fünf Ministern, die den kompromisslosen Brexit-Kurs von Boris Johnson ablehnen. Sie haben genug von der No-Deal-Strategie, die der Premierminister in den vergangenen Tagen massiv verschärft hat. Der Unmut richtet sich besonders gegen einen Mann: Dominic Cummings, den Chefberater des Premiers. Ihm wird nachgesagt, mit aller Kraft auf einen No-Deal-Brexit hinzuarbeiten. Einem Bericht der Londoner Times zufolge droht Johnson nun eine Kabinettsrevolte. Alles scheint möglich, auch Rücktritte von Ministern.

Auf der Liste der Absprungkandidaten stehen Nordirland-Minister Julian Smith, Kulturministerin Nicky Morgan, Justizminister Robert Buckland, Gesundheitsminister Matt Hancock sowie Generalstaatsanwalt Geoffrey Cox, der wichtigste juristische Berater der Regierung. Sie alle lehnen einen EU-Austritt Großbritanniens ohne Vertrag ab. In einer Kabinettssitzung am Dienstag haben sie ihrem Ärger Luft gemacht. Einer von ihnen sagte der Times: "Das Kabinett legt die Strategie fest, nicht ungewählte Beamte" - ein Seitenhieb auf Cummings. Sollte dies versucht werden, dann werde man scheitern. Und dann fügte er ganz ernsthaft hinzu: "Wir sind kein Kabinett von nickenden Hunden."

Kulturministerin Morgan brachte in der Sitzung einen Bericht des Spectator zur Sprache, der einen Brexit-Schlachtplan aus Downing Street veröffentlicht hatte. Der Verfasser soll Cummings sein. Vor allem ein Satz sorgt für Verstimmung: "Um die Brexit-Partei zu marginalisieren, werden wir den Wahlkampf auf einer Basis führen: keine weiteren Verzögerungen, der Brexit muss sofort vollzogen werden."

Als der Plan seines Beraters bekannt wurde, tat der Premier, als sei er überrascht

Dem Vernehmen nach setzt Cummings darauf, dass die Verhandlungen mit Brüssel scheitern, das britische Parlament einen weiteren Brexit-Aufschub erzwingt und es dann zu Neuwahlen kommt. Diese kann Johnsons Partei seiner Ansicht nach nur gewinnen, wenn sie die Brexit-Partei von Nigel Farage möglichst eliminiert. Und das gehe nur, wenn die Tories einen klaren No-Deal-Wahlkampf führen würden.

Doch gegen diese Strategie regt sich immer stärkerer Widerstand. Die Financial Times zitierte ein Regierungsmitglied mit den Worten, dass er im Wahlkampf klar dafür eintreten werde, die EU mit einem Deal zu verlassen. Dutzende in der Partei würden das genauso sehen. Britische Medien berichteten von mindestens 50 Tory-Abgeordneten, die einen No-Deal-Wahlkampf ablehnen. Bislang lassen sie sich nur ohne Namen zitieren. Angesichts des kompromisslosen Brexit-Kurses in Downing Street ist von "Wahnsinn", "Irrsinn" und "Verrücktheiten" die Rede. Der Plan, Farages Brexit-Partei auszubremsen, indem man die Tories als die wahre Brexit-Partei darstelle, sei "haarsträubend".

Johnson selbst zeigte sich in besagter Kabinettssitzung offenbar von der Kritik überrascht. Er soll so getan haben, als habe er von dem im Spectator veröffentlichten Schlachtplan nichts gewusst. "Ich bin mir nicht sicher, ob er etwas über Cummings' Briefing gewusst hat", wird ein Minister zitiert. Johnson habe "wirklich verblüfft" ausgesehen, als dies zur Sprache kam.

Am Mittwoch war Downing Street jedenfalls darum bemüht, all die Spekulationen um einen No-Deal-Brexit wieder einzufangen. Der Premierminister werde alles dafür tun, weiter an einem Abkommen mit der EU zu arbeiten, hieß es in London. Dass nun wieder moderatere Töne angeschlagen werden, gehört zu Johnsons Verwirrtaktik. Der Premier will jedenfalls noch in dieser Woche mit Irlands Premierminister Leo Varadkar sprechen.

Auch in Brüssel bemüht man sich um Deeskalation. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker forderte im Europaparlament zunächst die Mitgliedstaaten auf, bei den Verhandlungen über den EU-Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027 sowie in der Migrationspolitik Fortschritte zu machen, dies würden die Menschen von ihren Politikern erwarten. Die Botschaft: Der Brexit darf nicht alles überlagern, Erst nach mehr als zehn Minuten kam er auf ihn zu sprechen und betonte, dass er trotz des Zeitdrucks "einen Deal nicht ausschließen" würde. Er erinnerte die "britischen Freunde" daran, dass auch das EU-Parlament am Ende zustimmen müsse. Den Versuch der Johnson-Regierung, den EU-27 die Schuld am Stillstand zuzuschieben, wies Juncker unter Beifall zurück: "Wir akzeptieren dieses blame game nicht, mit dem London angefangen hat."

Die Detailanalyse, die Michel Barnier anschließend vortrug, dürfte der Chefunterhändler am Freitag auch Brexit-Minister Stephen Barclay präsentieren. Die Debatte dreht sich weiter um die durch Johnsons Plan nötigen Zollkontrollen in Irland sowie das faktische Veto für die nordirische DUP. Nach diesem Gespräch dürfte endgültig klar sein, ob es noch klitzekleine Chance auf einen Deal gibt. Gelingt es Johnson nicht, spätestens beim EU-Gipfel am 17./18. Oktober eine Einigung zu erreichen, muss er laut Gesetz um eine Verlängerung der Austrittsfrist bitten. Für den 19. Oktober hat er das Unterhaus schon mal vorsorglich zu einer Sondersitzung geladen. Bislang lehnt der Premier jeglichen Aufschub vehement ab. Sein Appell ist eindeutig: Das Vereinigte Königreich werde die EU am 31. Oktober verlassen - egal ob mit oder ohne Deal.

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