Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Die Ärzte warten auf Rettung

Das britische Gesundheitssystem ist in seiner größten Krise: Kliniken sind überfüllt, Pfleger überfordert, Patienten alleingelassen. Mediziner fordern von der Regierung Hilfe, doch die spielt das Problem herunter.

Von Cathrin Kahlweit, London

Vielleicht waren ja die Olympischen Spiele 2012 in London schon ein schlechtes Omen gewesen. Während der Eröffnungszeremonie feierten die Briten eine der größten Errungenschaften der britischen Nachkriegszeit, den National Health Service (NHS). Das hatte es noch nie gegeben: dass ein Land sein Gesundheitswesen vor der Welt bejubelt. Aber die Choreografie zeigte schon damals, ahnungsvoll und realitätsnah, zwei Seiten: Anfangs walzten Tänzer, als Krankenschwestern und Ärzte verkleidet, heiter durch das Rund der Arena. Jubel. Feuerwerk. Dann brach der Tanz ab. Und dieselben Schwestern und Doktoren marschierten, in einem Ballett der erschöpften Seelen, roboterhaft im Kreis, nach rechts und links kippend wie müde Marionetten, während in riesigen Betten jeweils gleich mehrere Patienten unter weißen Laken kauerten.

Etwa so gruselig muss man sich die Lage heute tatsächlich vorstellen - nun, da der NHS 70 Jahre alt wird: überfüllte Betten, erschöpftes Personal, verzweifelte Patienten. 55 000 nicht lebensnotwendige Operationen, die für Januar in England eingeplant waren, wurden verschoben, um die Betten frei zu kriegen für schwere Fälle. Notfall-Ambulanzen, in denen Menschen bis zu zwölf Stunden auf einen Arzt warten. Krankenhäuser, in denen Patienten stundenlang in Rettungswagen liegen müssen, weil niemand da ist, um sie aufzunehmen. Kranke, die in Eingängen, Fluren, ja auf dem Fußboden liegen, schlafen, bluten, bis sich jemand um sie kümmert. Alte, in Rollstühlen in eine Ecke geschoben, unbeachtet. Untersuchungen auf Krankentragen im Flur, wo jede Intimität fehlt.

Es reicht, fanden Ärzte aus 68 "A&E"-Stationen, (Accident and Emergency), Spezialisten für Notfall-Medizin, und schrieben vorige Woche einen offenen Brief an Premierministerin Theresa May: Die Lage sei unerträglich. Patienten drohten auf den Korridoren zu sterben, weil sie nicht schnell genug behandelt werden könnten. Am Donnerstag schlossen sich Ärzte in Wales an - die Sicherheit der Patienten sei nicht mehr gewährleistet.

Ein System steckt in der Megakrise. Vielleicht in der größten Legitimationskrise seiner Existenz. Die Politik nennt das Problem eine "Phase", schuld sei die "alljährliche Winterkrise" wegen der in diesem Jahr dramatischen Grippewelle. Premierministerin May betont, der NHS sei so gut ausgestattet und finanziert wie noch nie. Es gebe ein paar Probleme, ja, sorry.

Während in anderen Ländern das Gesundheitswesen aus Versicherungsbeiträgen finanziert wird, erhält der NHS sein Budget aus Steuermitteln. Trusts, regionale Versorgungseinheiten, in denen die NHS-Krankenhäuser organisiert sind, kooperieren mit Ärztehäusern, in denen Allgemeinärzte kaum mehr als zehn Minuten pro Patient einplanen. Die Akutversorgung funktioniert in der Regel, aber chronisch Kranke warten monatelang auf Termine; die Ausgaben für Sozialbetreuung und Pflege sinken. Das große Plus: Die Leistungen stehen allen Briten und legal im Land lebenden Migranten kostenlos zur Verfügung. Ein Luxus, den Kritiker "sozialistisch", Befürworter "humanistisch" nennen.

Aber was ist, wenn das System nicht mehr leisten kann, was es leisten muss? Notfallmediziner Adrian Boyle arbeitet an einer Klinik nördlich von London, zudem ist er Vorstandsmitglied im Berufsverband, dem Royal College of Emergency Medicine. "Eigentlich", sagt er, "sehen die Vorgaben des NHS vor, dass 95 Prozent der Patienten innerhalb von vier Stunden untersucht sein sollten. Im Dezember waren es in England gerade mal 77 Prozent." Das sei der schlechteste Schnitt, den es je gab. Die Regierung suche die Schuld bei den Kliniken, sagt Boyle, und fordere, die leichten Fälle, die sogenannten vermeidbaren Patienten, schneller heimzuschicken, um mehr Zeit für die echten Probleme zu haben. Falsch, sagt Boyle. Die, die mit einem Schnupfen in die Ambulanz kämen oder mit einem Pflaster heimgeschickt werden könnten, machten zwar 15 Prozent der Patienten, aber nicht 15 Prozent der Arbeitszeit aus. "Die Probleme liegen tiefer. Sie sind sozialer und ethischer Natur."

"Die Leute sterben auf dem Flur, inmitten fremder Menschen."

Es sind die Alten, chronisch Kranken, die Hilflosen, die Armen, die das System nicht mehr schultern kann. Denn während der NHS nach langen Sparrunden wieder etwas mehr Geld vom Staat bekommt, zuletzt eine extra Finanzspritze von 337 Millionen Pfund, würden Pflegestationen, Seniorenheime, Sozialstationen geschlossen. "Diese Leute landen bei uns. Sie brauchen Zimmer und Zeit, die ich nicht habe."

Der NHS habe zudem, ganz konkret, schlicht zu wenig Akutbetten: 7000 weniger als noch vor einem Jahr. Wenn dann noch die Winterkrise mit Tausenden Grippefällen dazukomme, sei das Chaos perfekt: "Die Leute, die in Fluren und Rettungswagen warten, weil wir nicht wissen, wo wir sie hinlegen sollen, bekommen zu spät Antibiotika, zu spät Schmerzmittel, werden zu spät gesehen, untersucht." Nicht zu reden von den Operationen, die aufgeschoben würden in der Krise: Hüften, Mandeln, Katarakte. Und der Stau bleibt - "Wir waren ja schon letztes Jahr erst im Juni wieder im Plan mit den Operationen, die wir nachholen mussten."

Unwürdig sei die Situation, sagt Boyle, frustrierend für die Ärzte, demütigend für die Patienten. Eine Assistenzärztin tritt hinzu. "Schlimmer noch", sagt sie: "Die Leute sterben auf dem Flur, inmitten fremder Menschen. Du willst sie schützen, ihre Intimität wahren. Du scheiterst, und dann fragst du, hättest du diesen Tod unter besseren Umständen verhindern können?"

Stress, Trauer, Angst, Aggression: Auch deswegen läuft dem NHS das Personal weg. Das Royal College of Nursing, der Berufsverband der Krankenschwestern, hat ausgerechnet, dass 33 000 Schwestern 2017 ihren Dienst quittiert haben, während 40 000 Stellen unbesetzt seien. Weil bislang viel Personal aus der EU auf die Insel kam, waren die Ausbildungsplätze im UK heruntergefahren worden. Seit dem Brexit-Referendum sind die Bewerbungen von Schwestern aus der EU um 90 Prozent zurückgegangen; die Personalkrise wird sich also verstärken. Das Gesundheitsministerium hat angekündigt, man werde von 2018 an wieder 25 Prozent mehr medizinisches Personal ausbilden. Aber das dauert.

Überhaupt schneidet der legendäre NHS im Vergleich der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) eher schlecht ab: weniger Ärzte, weniger Schwestern und Pfleger, weniger Betten als im Durchschnitt der Industrieländer; Rückschritte im Kampf gegen Säuglingssterblichkeit und bei der Lebenserwartung. Immerhin: Bei den Kosten liegt das Königreich OECD-weit im Mittelfeld. Gesundheitsminister Jeremy Hunt denkt jetzt über eine langfristige Finanzierung des NHS nach; ihm schwebt eine Art Zehnjahresplan mit fixen Steigerungsraten vor. Die NHS-Bosse hatten zuvor zusätzliche Milliarden für die Krise gefordert.

Die Briten sind durchaus bereit, mehr Geld für ihre Gesundheit auszugeben

Aber die Debatte ist längst grundsätzlicher geworden: Kann ein Gesundheitssystem, dessen Finanzierung vom guten Willen der Regierung abhängt, überleben? Muss der NHS nicht vom Staatshaushalt abgekoppelt werden? Ein Vorschlag lautet, eine zweckgebundene NHS-Steuer einzuführen. Eine Untersuchung des King's Fund Think Tanks hat ergeben, dass die Briten theoretisch bereit wären, mehr für ein besser ausgestattetes Gesundheitswesen zu zahlen. Gegner einer solchen Steuer, die im Effekt der Idee der deutschen Bürgerversicherung ähneln würde, argumentieren, dem NHS mangele es gar nicht an Geld, sondern an Effizienz.

Fragt man Außenminister Boris Johnson, so ist die Lösung der Probleme nur eine Frage der Zeit: Beliebtes Argument der Brexit-Befürworter war gewesen, dass nach dem EU-Austritt quasi automatisch wöchentlich 350 Millionen Pfund (400 Millionen Euro) mehr Steuergeld für das Gesundheitswesen bereitstünden. Obwohl der Lüge überführt, hat Johnson nun sogar noch nachgelegt: Die Zahl sei untertrieben gewesen, tatsächlich könnten es in einigen Jahren sogar bis zu 438 Millionen Pfund (500 Millionen Euro) pro Woche sein.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3832924
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 20.01.2018
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.