Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Widersprüchliche Würdenträger

Die Church of England ist Europas letzte Staatskirche. Doch in der Debatte um den Brexit hört ihr niemand zu.

Von Alexander Menden, London

Justin Welby, der anglikanische Erzbischof von Canterbury, schrieb kürzlich für die Mail on Sunday einen Artikel über seine persönliche Sicht des britischen EU-Referendums. "Jene, die in zwei Weltkriegen kämpften, schauten nicht zurück, sondern in die Zukunft. Jene, die die EU nach zwei Kriegen aufbauten, in dem Millionen Europäer gestorben sind, schauten in die Zukunft." Am Ende kündigte Welby an, er werde sich am 23. Juni für einen Verbleib des Vereinigten Königreiches in der Europäischen Union aussprechen.

Bemerkenswert an dieser Meinungsäußerung war erstens, dass sie so deutlich ausfiel, und zweitens, dass sie im Getöse des Streits über das Für und Wider eines Brexit überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. In der Debatte der vergangenen Monate war von den Kirchen im Allgemeinen und von der Church of England im Besonderen wenig zu hören. Jene Wortmeldungen, die es gab, waren sporadisch und meist eher zurückhaltend. Man hat nicht den Eindruck, als würden sie den Ausgang des Referendums maßgeblich beeinflussen. Dabei ist die Church of England nominell die letzte verbliebene Staatskirche Europas, gegründet von König Heinrich VIII. und bis heute dem Souverän unterstellt. Politische Beteiligung müsste also Teil ihres Selbstverständnisses sein.

Tatsächlich beteiligte sich die Church of England rege an der Debatte, als die Bürger des Vereinigten Königreiches 1975 erstmals über ihre weitere Mitgliedschaft in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) abstimmten. Die anglikanische Stimme war unmissverständlich pro-europäisch. Eine Kampagne namens "Christians for Europe" - ökumenisch, aber angetrieben von der Church of England - verteilte in allen Gemeinden Informationsbroschüren, platzierte Artikel in Pfarrbriefen. Es wurden Gottesdienste mit pro-europäischem Thema gefeiert. Diese Intervention diente zum einen ausdrücklich dazu, das Niveau der Debatte zu heben - es sollte nicht nur um wirtschaftliche und politische, sondern auch um ethische und spirituelle Aspekte des Europa-Gedankens gehen. Zum anderen ging es den "Christians for Europe" um die Idee eines christlichen Internationalismus. Das Argument, das auch Welby wieder aufgreift, lautete, Teil der christlichen Mission sei ein Bemühen um Versöhnung. Dafür stehe die Europäische Gemeinschaft.

Das Friedensprojekt Europa war damals, nur dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, weitaus stärker im Bewusstsein der Briten als heute. Im August 1948 hatte sich in Amsterdam - ein Jahr vor der Gründung des Europarats - der Ökumenische Rat der Kirchen formiert. Dessen Grundidee war, aus den Zerstörungen des Krieges ein engeres Zusammenrücken der christlichen Gemeinschaften erwachsen zu lassen. Schon in den Sechzigerjahren begann die vorsichtige Wiederannäherung zwischen Anglikanern und Katholiken, in den Siebzigern gab es den Versuch eines Zusammenschlusses der Church of England mit den Methodisten. Der Europa- und der Ökumene-Gedanke waren eng miteinander verknüpft. Die einzige nennenswerte christliche Opposition kam von der Freien Presbyterianischen Kirche und ihrem Gründer, dem nordirischen Protestantenführer Ian Paisley. Der warnte 1975 jede Stimme für den gemeinsamen Markt sei eine Stimme für "Rom, Verdammnis und den Anti-Christ". Letztlich trug aber die "Christians for Europe"-Kampagne dazu bei, dass 67,2 Prozent aller Wähler für die Mitgliedschaft in der EWG stimmten.

Der Bischof will zu keiner Entscheidung raten. Er will nur "Großzügigkeit und Freude"

Nun ist es nicht so, als gäbe es in der gegenwärtigen Referendumsdebatte gar keine christlichen Gruppen mit eindeutiger Haltung. Giles Fraser, publizistisch umtriebiger Pfarrer der Londoner Gemeinde St Mary's Newington, und der Theologe Adrian Hilton haben die Kampagne "Christians for Britain" gegründet. Sie lehnt die EU und ihre Institutionen als "abgehoben, elitistisch, bürokratisch und supranational" ab. Die "Christians for Europe" haben sich ebenfalls neu formiert und treten dafür ein, "in der EU zu bleiben und sie anzuführen" damit "alle Menschen in Frieden miteinander leben und die Chance erhalten, ein Leben in Wohlstand zu führen". Beide Kampagnen verbindet, dass sie in der britischen EU-Debatte fast keine Rolle spielen.

Was das anglikanische Episkopat angeht, so hatten sich auch vor Justin Welby bereits vereinzelt Würdenträger geäußert. Doch das klang meist so wie bei Alan Smith, dem Bischof von Saint Albans. Er begann seinen Diözesan-Brief zum Referendum mit der Versicherung: "Ich werde niemandem sagen, wie er abstimmen soll" und ermunterte lediglich alle dazu, darüber nachzudenken, "wie wir die Debatte und das Referendum mit Großzügigkeit und Freude angehen können".

Diese Unentschiedenheit der Church of England ist symptomatisch für die Identitätskrise der anglikanischen Konfession. Während die Geistlichen in der Regel eher linksliberal sind, rekrutieren sich die Gemeinden eher aus konservativen Kreisen, die einer pro-europäischen Botschaft gegenüber traditionell wenig aufgeschlossen sind. In der jüngeren Vergangenheit haben Streitigkeiten über die Zulassung von Frauen und Homosexuellen zum Bischofsamt die Anglikaner an den Rand eines Schismas getrieben. Zudem macht sich der Druck des wachsenden Säkularismus und der religiösen Vielfalt in Britannien bei keiner der größeren Kirchen derart drastisch bemerkbar wie in der Church of England. Vergangenes Jahr fiel die Gesamtzahl der wöchentlichen Gottesdienstbesuche in England und Wales erstmals auf 760 000. 1975 gab es doppelt so viele Kirchenbesucher, und die englische Staatskirche hatte damals noch genügend Selbstbewusstsein, sich in weltliche Belange von Bedeutung einzumischen. Heute scheint sie sich ihres eigenen göttlichen und gesellschaftlichen Auftrags nicht mehr sicher zu sein. Und einer Institution, die sich selbst nicht mehr für relevant hält, fällt es schwer, Stellung zu beziehen.

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SZ vom 17.06.2016
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