Großbritannien:Der Mann, der für den Brexit sorgen könnte

Londons Bürgermeister Boris Johnson hat schon als Kind in Brüssel gelebt und liebt Europa - aber die EU liebt er nicht. Das könnte bei der Abstimmung im Juni entscheidend sein.

Porträt von Benedikt Peters

Boris Johnson war acht Jahre alt, als er zum ersten Mal nach Brüssel kam. Sein Vater hatte einen Job in der Umweltabteilung der Europäischen Kommission bekommen. Boris besuchte die Europäische Schule im Stadtteil Uccle und lernte fließend Französisch - auch wenn er seinen "starken, britischen Akzent" nie ablegte, wie es in Andrew Gimsons Biografie von 2012 heißt.

Nicht nur wegen dieser Zeit kennt der heutige Bürgermeister von London die Europäische Union wie nur wenige Briten. Nach dem Studium der Altertumswissenschaften in Oxford und einem Management-Job, den er nach nur einer Woche aus Desinteresse wieder kündigte, schlug er eine journalistische Laufbahn ein. 1989 kehrte er in die EU-"Hauptstadt" zurück und berichtete fünf Jahre lang für den renommierten Telegraph über das politische Geschehen in Brüssel.

Es ist gewissermaßen das Fazit aus dieser Zeit, dass Großbritannien nun in helle Aufregung versetzt. "Ich bin ein Europäer", schreibt Johnson, heute Bürgermeister von London, in einem Gastbeitrag für seinen alten Arbeitgeber. Und noch mehr: Er "liebe" Europa sogar, es sei die Heimstatt der "tollsten und reichhaltigsten Kultur der Welt". Allein: Europa, das sei eben nicht die Europäische Union. Die sei wie eine "Ratsche, die sich nur nach vorne dreht", die jedes Politikfeld infiltriere und über alles bestimmen wolle.

Johnsons "Nein" könnte alles verändern

Mit diesen Sätzen (und entsprechenden Ankündigungen vor Journalisten) hat sich Boris Johnson eindeutig auf die Seite der EU-Gegner gestellt. Damit bringt er David Cameron in Bedrängnis. Der britische Premier empfiehlt seinen Landsleuten, bei der Abstimmung am 23. Juni über den Verbleib Großbritanniens in der EU mit "Ja" zu stimmen. Dazu rang sich Cameron durch, nachdem er zuvor in Brüssel viele Zugeständnisse der anderen Mitgliedsstaaten ausgehandelt hatte. Kommentatoren gingen davon aus, dies würde für ein "Ja" einer Mehrheit der Briten zur EU reichen.

Johnsons "Nein" aber könnte das drehen. Er gilt als einer der drei bekanntesten Politiker in Großbritannien - neben Finanzminister George Osborne und Premierminister Cameron. Und: Von den dreien ist Johnson den Bürgern mit Abstand am nächsten.

Der @MayorofLondon veranstaltet hin und wieder eine Fragestunde auf Twitter. "#AskBoris" heißt sie. Als sie das letzte Mal begann, stellte Johnson ein Foto auf seinen Account, darauf hebt er beide Daumen und schaut verwegen-grinsend in die Kamera.

"Leute, ich bin bereit für eure Fragen, schießt los!", schreibt er dazu. Dann kommen Dutzende Fragen: Zur Londoner U-Bahn, zu den Fahrradwegen. Für alle hat @MayorofLondon eine Antwort parat. Doch Johnson wird nicht nur wie ein Bürgermeister gefragt, sondern auch wie ein Bekannter, vielleicht gar ein Freund. "Ich habe eine schreckliche Grippe - hast du irgendwelche Tipps, wie ich sie wieder loswerden kann?"

"Iss' viele Orangen", rät der Bürgermeister, "die gibt es bei uns in mindestens 200 gesunden Takeaways."

Unmöglich, sich vorzustellen, Angela Merkel würde öffentlich solche Ratschläge erteilen - und auch beim britischen Premier David Cameron ist es nur schwer vorstellbar.

Manchmal übertreibt es Johnson

Mit Volksnähe und Flapsigkeit hat es Johnson aber auch schon übertrieben. Als er gefragt wurde, wie er die Feierlichkeiten zum 60. Thronjubiläum von Königin Elizabeth II. finde, antwortete er: "Wie Dünkirchen, nur etwas spaßiger." Bei Dünkirchen waren im Zweiten Weltkrieg Zehntausende britische Soldaten von der deutschen Wehrmacht eingekesselt worden und mussten mit kleinen Booten aus der Belagerung gerettet werden. Johnson fühlte sich daran erinnert, weil zum Thronjubiläum viele kleine Boote auf der Themse unterwegs waren.

Der Boulevard spießt solche Entgleisungen immer wieder auf und verpasste Johnson mehrere Spitznamen. "Die blonde Gefahr" nennen sie ihn in Anspielung auf seine etwas eigene Frisur. In Anlehnung an seine frühere Herausgeberrolle beim Nachrichtenmagazin The Spectator und wegen zahlreicher Frauengeschichten wurde er außerdem als der "Sextator" verspottet.

Seiner Beliebtheit tut das keinen Abbruch. 2008 wurde er als Bürgermeister von London gewählt und 2012 im Amt bestätigt, obwohl die Stadt tendenziell eher in der Hand der Labour-Partei ist. Bei den Konservativen gilt Johnson inzwischen sogar als Kandidat für den Posten des Premierministers.

Die Angst vor Terroranschlägen schlachtet er nicht aus

Für den Austritt Großbritanniens aus der EU argumentiert der Absolvent des Eton College und der Oxford-Universität versiert und sachlich. Die Ursprungsidee der Union, die Friedenssicherung in Europa, sei aus den "höchsten Motiven" geboren. Auch die Idee des freien Binnenmarktes sei zu befürworten. Sie dürfe aber nicht zum Souveränitätsverlust führen - und der sei so, wie sich die EU in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt habe, unvermeidlich, meint Johnson. Auch nach dem Austritt wünsche er sich eine "harmonische Beziehung" mit der EU.

Zugutehalten muss man Londons Bürgermeister, dass er nicht mit der Terrorangst für den EU-Austritt mobil macht. Andere bekannte Gegner der britischen EU-Mitgliedschaft haben inzwischen geäußert, sie steigere die Gefahr, dass ein Terroranschlag wie im November in Paris bald auch in London stattfinden könnte.

Boris Johnson aber antwortet, als er in seiner Twitter-Fragestunde zur Terrorgefahr in London gefragt wird, nichts dergleichen. "Wir treffen alle möglichen Vorkehrungen", antwortet er - und klingt dabei fast schon staatsmännisch.

Sollte Premier Cameron bei dem Referendum im Juni scheitern, könnte der Amtssitz in der 10 Downing Street für Johnson tatsächlich in greifbare Nähe rücken. Denn im Falle eines britischen Neins zur EU gilt der Rücktritt des Premiers als wahrscheinlich. Bis zur Entscheidung sind es aber noch vier Monate.

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