Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Das Lager der britischen EU-Gegner wird stärker

  • Die Bürger Großbritanniens riskierten im Falle eines Brexit eine Zeit der Instabilität, der Unsicherheit und der Rezession, sagte Cameron in einem Fernsehinterview.
  • Jüngsten Umfragen zufolge liegen beide Lager gleichauf, wobei die Befürworter des Austritts zuletzt leicht zugelegt haben.
  • Laut den Umfrage-Instituten wird viel von der Wahlbeteiligung und der Mobilisierung der jungen Wähler abhängen, die tendenziell eher für einen Verbleib in der EU sind.

Von Christian Zaschke

David Cameron zeigte sich in der Früh gut erholt von seinem furchtbaren Abend. Der britische Premierminister hatte sich in der Debatte über einen britischen Austritt aus der EU im Sender Sky News erstmals den Fragen eines Moderators und des Studiopublikums gestellt, und er dürfte selbst überrascht darüber gewesen sein, wie viel Feindseligkeit ihm entgegenschlug. Cameron wirkte müde und geriet wieder und wieder in die Defensive.

Am folgenden Morgen trat er im Frühstücksprogramm des Senders ITV auf. Dort waren die Moderatoren freundlicher zu ihm, und er wiederholte seine Kernbotschaft: Die Bürger Großbritanniens riskierten eine Zeit der Instabilität, der Unsicherheit und der Rezession, falls sie sich am 23. Juni im Referendum gegen die Mitgliedschaft in der Europäischen Union entschieden.

Seit Wochen wird die Debatte im Land mit emotionaler Wucht geführt, und je näher der Tag der Abstimmung rückt, desto schärfer wird sie. Cameron musste sich vom Studiopublikum bei Sky Angstmache und Heuchelei vorwerfen lassen. Eine Studentin sagte dem Premier: "Ich erkenne Geschwafel, wenn ich es höre." Der Moderator fragte Cameron spöttisch: "Was kommt denn im Falle des Austritts zuerst: der Dritte Weltkrieg oder die globale Rezession?"

Die Fernsehauftritte des Premiers leiten die letzte Phase der Diskussionen über eine Frage ein, die nicht nur für die Zukunft des Vereinigten Königreichs von immenser Bedeutung ist, sondern auch für die des Kontinents. Jüngsten Umfragen zufolge liegen beide Lager gleichauf, wobei die Befürworter des Austritts zuletzt leicht zugelegt haben. Cameron versucht, den Fokus auf die negativen wirtschaftlichen Folgen eines Austritts zu legen.

Banken warnen vor Abwanderung Tausender Arbeitsplätze auf den Kontinent

Unterstützt wird er dabei von den meisten großen Unternehmen und von der Bank von England. Am Freitag warnte die amerikanische Bank JP Morgan, im Falle des Austritts werde sie Tausende Arbeitsplätze von Großbritannien auf den Kontinent verlegen müssen. Doch diese Argumente verfingen zuletzt immer weniger, da es den EU-Gegnern gelungen ist, die Immigration zum zentralen Thema der Debatte zu machen.

Im Gespräch mit Sky musste der Premier einräumen, dass es ihm nicht gelungen ist, die Netto-Einwanderung auf unter 100 000 pro Jahr zu drücken; das hatte er bei seinem Amtsantritt im Jahr 2010 "ohne Wenn und Aber" versprochen. Allein im Jahr 2015 überstieg die Zahl der Einwanderer die der Auswanderer um 333 000. Nach Ansicht der EU-Gegner hängt das vor allem mit der Freizügigkeit innerhalb der EU und einer daraus folgenden Einwanderung in die Sozialsysteme zusammen.

Besonderes Kennzeichen der Debatte ist, dass sie vor allen Dingen innerhalb der Konservativen Partei geführt wird. Camerons größte Gegner sind alte Weggefährten wie der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson und Justizminister Michael Gove. Beide werfen ihrem Parteichef vor, er unterhöhle das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik.

Besonders der vormalige Arbeitsminister Iain Duncan Smith attackiert den Premier zunehmend persönlich. Am Freitag nannte er Cameron "zutiefst unaufrichtig"; er versuche die Briten bewusst zu täuschen. Drei konservative Abgeordnete forderten zudem in dieser Woche, nach dem Referendum müsse unabhängig vom Ausgang über den Parteichef abgestimmt werden.

Die Wettbüros in Großbritannien haben sich längst festgelegt

Aus Camerons Sicht wird in dem Referendum auch über sein politisches Überleben und sein Erbe entschieden. Stimmt eine Mehrheit der Briten für den Austritt, dürfte er sich kaum im Amt halten können. In diesem Fall ginge er als der Premier in die Geschichte ein, der Großbritannien aus der EU geführt hat, obwohl er das nicht wollte. Stimmt eine Mehrheit für den Verbleib, stünde Cameron vor der äußerst schwierigen Aufgabe, seine zerstrittene Partei wieder zu einen. Das könnte unter anderem bedeuten, dass er die Politiker, die ihn derzeit so hart angehen, mit hohen Ämtern belohnt.

Laut den Umfrage-Instituten wird viel von der Wahlbeteiligung und der Mobilisierung der jungen Wähler abhängen. Während mehr als 80 Prozent der Briten über 65 angeben, sie würden mit Sicherheit abstimmen, liegt die Zahl bei Wählern im Alter zwischen 18 und 24 Jahren bei lediglich 47 Prozent. Unter älteren Briten ist die Zustimmung zum Austritt deutlich höher, während eine große Mehrheit der jungen Wähler der EU wohlgesonnen ist.

Was Cameron in diesen turbulenten Zeiten der lauten Debatte und der ständig wechselnden Umfrage-Ergebnisse beruhigen könnte, ist die Tatsache, dass die Wettbüros sich längst festgelegt haben. Ausnahmslos zahlen sie nur minimale Beträge für eine Wette auf den Verbleib Großbritanniens in der EU, und die Wettanbieter gelten auf der Insel seit jeher als die zuverlässigsten Deuter der Zukunft.

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SZ vom 04.06.2016/dayk
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