Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Brexit täte Briten und Europa weh

  • "Leave heißt leave und heißt nicht Sonderregeln", sagt EVP-Fraktionsvorsitzender Weber. Ohne Mitgliedschaft soll Großbritannien keine Vorteile aus der EU ziehen.
  • Es fehlt die Blaupause für den Ausstieg. Doch schon nach zwei Jahren würde die Trennung wirksam - das schafft enormen Zeitdruck.
  • Offen ist auch, was im Falle eines Brexits mit den britischen EU-Bediensteten oder dem turnusmäßigen britischen EU-Ratsvorsitz passiert.

Von Daniel Brössler

Es hat Anrufe aus London gegeben mit Bitten, die mehr als deutlich waren: Nichts sagen, nichts tun. Jedenfalls nichts, was vor der Abstimmung am 23. Juni im Vereinigten Königreich als Bevormundung ausgerechnet aus dem verhassten Brüssel empfunden werden könnte. Die meisten Spitzenpolitiker der Europäischen Union fügen sich, um ein Ja beim Referendum über den Verbleib in der EU nicht zu gefährden. Als die Niederländer jüngst gegen das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine stimmten, wurde EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker eine Mitschuld zugeschoben, weil er vor einer "kontinentalen Krise" gewarnt hatte. Brüssel schweigt also.

Doch die Zweifel daran, ob das richtig ist, wachsen. Der Vorsitzende der größten Fraktion im Europäischen Parlament, der CSU-Mann Manfred Weber, plädiert dafür, die Briten klar auf die Konsequenzen eines Neins hinzuweisen. "Der Austritt wäre für beide Seiten ein großer Schaden. Aber wenn die Wähler in Großbritannien sich dafür entscheiden, dann respektiere ich den Wählerwillen. Das heißt: Raus aus dem Binnenmarkt, raus aus der Polizei-Zusammenarbeit, wo die Briten massiv vom Austausch von Daten profitieren. Und auch raus aus der gemeinsamen Sicherheitspolitik", sagt der Chef der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament. Das müsse "mit aller Klarheit auf den Tisch gelegt werden".

Hoffnungen, die Briten könnten auch ohne Mitgliedschaft Vorteile aus der EU ziehen, will Weber beizeiten begraben. "Leave heißt leave und heißt nicht Sonderregeln", sagt er und warnt: "Wir werden nicht bereit sein, die Briten an den Binnenmarkt andocken zu lassen, wenn nicht klar ist, dass sie sich an den finanziellen Lasten beteiligen."

Der Beitritt in die EU ist minutiös geregelt - der Austritt ist es nicht

Solche Warnungen liefern einen Vorgeschmack auf den Tag X. Den Fall nämlich, dass die Briten sich tatsächlich für den Austritt entscheiden. Erfahrung mit so etwas gibt es kaum, sieht man einmal von Grönland ab, das die EU 1985 verlassen hat. Mit dem selbstverwalteten, zu Dänemark gehörenden Gebiet mit der Einwohnerzahl Passaus gab es vor allem Fischereifragen zu besprechen. Schon das dauerte Jahre.

Trotz aller Ausnahmebestimmungen ist Großbritannien engstens verwoben mit der EU. Die Scheidung wird bestenfalls schwierig und schlimmstenfalls schmutzig. Die EU kann es sich gar nicht leisten, nett zu den Briten zu sein, weil das Absetzbewegungen in anderen Mitgliedstaaten fördern würde.

Was überdies fehlt, ist eine Blaupause. Während der Beitritt von Staaten bis ins kleinste Detail geregelt ist, gibt es für die umgekehrte Richtung kaum Wegweiser. Erst im Vertrag von Lissabon hat die EU mit dem Artikel 50 überhaupt ausdrücklich das Recht des Austritts geschaffen. Ganz knapp nur umreißt der Artikel, wie das gehen soll: Nach offizieller Bekundung des Austrittswunsches beginnen die Verhandlungen über die Modalitäten. Das Abkommen bedarf dann einer qualifizierten Mehrheit der EU-Staaten und der Zustimmung des EU-Parlaments. So oder so aber wird der Austritt nach zwei Jahren wirksam, es sei denn, die EU-Staaten gewähren einstimmig eine Verlängerung. Das schafft enormen Zeitdruck.

Eine zentrale Rolle in den Verhandlungen würde die EU-Kommission spielen, die ganz im Sinne des aus London verordneten Schweigens wenig über ihre Notfallplanungen nach außen dringen lässt. So viel aber doch: Großbritannien kann nicht ernsthaft darauf hoffen, innerhalb von zwei Jahren neue Bedingungen der Zusammenarbeit auszuhandeln. Für ein typisches Assoziierungsabkommen werden in Brüssel Verhandlungen von sechs bis acht Jahren veranschlagt. Geregelt wird also erst einmal nur die Scheidung.

Am Sonntag nach einer Leave-Entscheidung gäbe es zunächst eine Sondersitzung der EU-Kommission. Die Staats- und Regierungschefs treffen sich dann am 28. Juni zum Gipfel. Dieser hätte eigentlich am 23. Juni, dem Tag des Referendums, beginnen sollen, wurde aber von Ratspräsident Donald Tusk verschoben, um eine Reaktion auf den Ausgang der Abstimmung zu ermöglichen. Im Falle eines Leave-Votums und einer offiziellen Mitteilung aus London könnte das Scheidungsverfahren bereits hier beginnen: Die Staats-und Regierungschefs würden sich zunächst mit und dann ohne David Cameron (oder seinem Nachfolger) treffen. In Artikel 50 ist geregelt, dass Vertreter eines Austrittsstaates nicht mehr an Ratssitzungen teilnehmen dürfen, bei denen es um die Austrittsverhandlungen geht.

Im Juli 2017 müsste London den EU-Ratsvorsitz übernehmen - eigentlich

Schon diese Regelung macht klar, dass Großbritannien nach dem Tag X kein fast normales Mitglied bleiben kann. Turnusmäßig würde Großbritannien im Juli 2017 den Ratsvorsitz in der EU übernehmen - während laufender Austrittsverhandlung nach gängiger Meinung in Brüssel eine absurde Vorstellung. Und könnte Jonathan Hill, britischer EU-Kommissar für Finanzstabilität und Kapitalmärkte, im Amt bleiben, während es darum geht, was der Austritt für die City, also den Bankenplatz London, bedeutet? Schon gibt es Überlegungen, dass dem britischen Kommissar im Ernstfall mindestens sein Portfolio entzogen werden müsste.

Nicht direkt um ihren Job bangen müssen die britischen EU-Bediensteten. Allein in der EU-Kommission besitzen 1164 der 32 966 Beamten einen britischen Pass. Ihre Arbeitsverträge würden durch einen Austritt nicht ungültig, im nicht zuletzt nach nationalem Proporz fein austarierten Laufbahnsystem der EU freilich wäre ihnen in der Regel jeder Aufstieg versperrt. Das Vereinigte Königreich, schon in den vergangenen Jahren in Brüssel nicht eben im Zentrum des Geschehens, würde schlagartig jeden Einfluss verlieren.

Ob auch die 73 britischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments weitermachen dürften, nennt der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen eine "spannende Frage", die derzeit viele seiner Kollegen beschäftige. Zu klären sei doch: "Können britische Abgeordnete über Zukunftsfragen mitentscheiden, die sie gar nicht mehr betreffen?" Rechtlich gebe es da bisher keine Regelung, räumt der Jurist ein, politisch aber werde sich nach einer Austrittserklärung gewiss "eine Dynamik entfalten".

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SZ vom 13.05.2016/mmm
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