Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:In langer Tradition

Boris Johnson wäre nicht der Erste in seiner Partei, der ein Misstrauensvotum übersteht - und am Ende dennoch verliert.

Von Alexander Mühlauer, London

Man tritt Theresa May sicher nicht zu nahe, wenn man sich vorstellt, dass sie am Montagmorgen wohl ein wenig Schadenfreude verspürt hat. Die Nachricht, dass sich ihr Nachfolger als Premier und Tory-Chef einem parteiinternen Misstrauensvotum stellen muss, dürfte sie mit einer gewissen Genugtuung aufgenommen haben. Es ist schließlich kein Geheimnis, dass sie von Boris Johnson nicht viel hält, was auch daran liegt, dass er an ihrem eigenen Scheitern als Regierungschefin nicht ganz unbeteiligt war.

Über die Beziehung zwischen May und Johnson ließe sich mit ziemlicher Sicherheit ein Bestseller schreiben, die gegenseitige Abneigung ist in unzähligen Parlamentsdebatten bestens dokumentiert. An diesem Montag war es allerdings vor allem eine Parallele zwischen den beiden, die in Westminster rauf und runter diskutiert wurde: Wie Johnson musste sich auch einst May einem Misstrauensvotum der eigenen Partei stellen. Sie überstand die Abstimmung zwar mit 63 Prozent Zustimmung, im Rückblick war dieser Moment aber so etwas wie der Anfang vom Ende ihrer Zeit als Regierungschefin. Johnson erhielt nun lediglich 59 Prozent Zustimmung.

Die Frage ist also, kann es Johnson nun ähnlich ergehen? Auch wenn die beiden ganz unterschiedliche Charaktere sind, haben sie doch eines gemeinsam: Wie May im Herbst 2018 sah auch Johnson im Frühjahr 2022 in den Stunden vor dem Votum nicht ein, warum er sein Amt überhaupt aufgeben sollte.

Zur Erinnerung: Noch am Tag des Misstrauensvotum im Dezember 2018 stellte sich May demonstrativ gelassen neben den Weihnachtsbaum vor 10 Downing Street und sagte in die Kameras, sie wolle im Amt bleiben, im Übrigen sei ihr Brexit-Deal gut und die Tories seien gut für das Land. Damals revoltierten die Brexiteers gegen den sogenannten Backstop, also jene Lösung, die May mit der EU in Sachen Nordirland verhandelt hatte, aber einfach nicht durch das Unterhaus brachte. Nach dem überstandenen Misstrauensvotum dauerte es nur fünf Monate, bis May aufgeben musste. Ihr Brexit-Deal fand in der Tory-Fraktion keine Mehrheit, hinzu kam ein Desaster bei den Europawahlen. May musste abtreten.

Johnsons Beliebtheitswerte sind maximal schlecht

Bei Johnson geht es jetzt nicht um den Brexit, sondern vor allem um "Partygate". In Sachen Beliebtheit kann er es allerdings laut Meinungsumfragen mit jener von May im Jahr 2018 aufnehmen, die Werte sind maximal schlecht. Also wiederholt sich die Geschichte womöglich doch. Denn wie schon beim Misstrauensvotum gegen Theresa May müssen die Tory-Abgeordneten eine Frage für sich beantworten: Glauben sie noch daran, mit dem aktuellen party leader die nächste Unterhaus-Wahl zu gewinnen?

Darum ging es in der Konservativen Partei immer mal wieder. Daher erinnerte man sich an diesem Montag in Westminster nicht nur an das Schicksal von Theresa May, sondern auch an die leadership challenges der ehemaligen Premiers John Major und Margaret Thatcher. Anders als bei Theresa May sind ihre Fälle allerdings nicht wirklich mit Johnson zu vergleichen. Damals galten noch andere Regeln für die Ablösung von Parteivorsitzenden.

Im Jahr 1995 war John Major schon fast fünf Jahre Tory-Chef und beschloss drei Jahre nach dem Sieg bei den Parlamentswahlen, die Vertrauensfrage zu stellen. Er kündigte damals seinen Rücktritt als Parteivorsitzender an und forderte seine Kritiker auf, sich bei einem erfolgreichen Votum hinter ihn zu stellen. Major gewann die Abstimmung, allerdings sprach sich ein Drittel der Tory-Abgeordneten für den damaligen Herausforderer John Redwood als neuen Parteivorsitzenden aus. Major machte als Premier und Tory-Chef weiter. Zwei Jahre später verlor er die Wahl im Jahr 1997 gegen Labour-Chef Tony Blair.

Tory-Ikone Margaret Thatcher musste sich gleich zwei Mal einer parteiinternen leadership challenge stellen. Die erste Abstimmung gewann sie im November 1989. Ein Jahr später konnte sie eine zweite für sich entscheiden, allerdings nur knapp. Nach den damals geltenden Regeln hätte sich Thatcher einem weiteren Votum gegen ihren damaligen Herausforderer Michael Heseltine stellen müssen. Doch dazu kam es nicht. Nach einem Aufstand in ihrem Kabinett trat Thatcher im November 1990 als Premierministerin zurück.

Einen halbwegs sauberen Rücktritt gab es zuletzt 2003

Einen einigermaßen sauberen Rücktritt gab es in der Geschichte der Konservativen Partei zuletzt im Jahr 2003. Damals waren die Tories in der Opposition und Iain Duncan Smith musste als party leader abtreten. Weil die Tories zu dieser Zeit im Vergleich zu heute mit sehr viel weniger Abgeordneten im Unterhaus vertreten waren, reichten schon 25 Misstrauensbriefe, um eine Abstimmung auszulösen. Am Ende sprachen 55 Prozent der Abgeordneten ihr Misstrauen gegen Duncan Smith aus. Ihm folgte Michael Howard, der als Tory-Spitzenkandidat bei den Parlamentswahlen im Jahr 2005 gegen den damals amtierenden Premier und Labour-Chef Tony Blair verlor.

Iain Duncan Smith ist noch immer Abgeordneter im Unterhaus. Als überzeugter Brexiteer forderte er einst lauthals den Rücktritt von Theresa May als Premierministerin. Nun, am Montag vor der Abstimmung über das Schicksal von Boris Johnson, blieb Duncan Smith zunächst auffallend still. Genauso wie die Abgeordnete Theresa May.

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