Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Wenn Politiker lieber freiwillig gehen

  • Sollte Boris Johnson künftiger Premierminister werden, will er nur solche Politiker zum Minister küren, die seine Brexit-Pläne unterstützen.
  • Schatzkanzler, Justizminister und Staatssekretär im Außenministerium verkünden daher, bei der scheidenden Premierministerin May ihren Rücktritt einzureichen.
  • Die große Mehrheit der Abgeordneten im britischen Parlament will jedoch einen Chaos-Brexit verhindern.

Von Björn Finke, London

Boris Johnson nutzte seine vermutlich letzte Kolumne in der Tageszeitung Daily Telegraph für einen gewagten Vergleich: Der Favorit für die Nachfolge von Premierministerin Theresa May schrieb, wenn Menschen vor 50 Jahren zum Mond fliegen konnten, "dann können wir auch das Problem des reibungslosen Handels an der nordirischen Grenze lösen". Der Brexit-Vorkämpfer setzt auf technische Lösungen, um zu verhindern, dass nach dem Austritt Zollkontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland nötig sind. Allerdings hat die EU mehrfach klargemacht, dass diese technischen Wunderlösungen ihrer Ansicht nach bisher nicht existieren.

Doch die Kolumne und viele andere Äußerungen Johnsons zeigen, dass sich der 55-Jährige von solchen Details nicht beeindrucken lässt: Er möchte mit der EU neu über die Bedingungen des Austritts verhandeln. Führt das nicht zum Erfolg, will er das Königreich am 31. Oktober zur Not ohne Vertrag aus der Union führen. Und dass Johnson tatsächlich nächster Premierminister wird, gilt als sicher. Die 160 000 wahlberechtigten Mitglieder der Konservativen Partei stimmten bis Montag per Briefwahl darüber ab, ob er oder sein Rivale Jeremy Hunt Partei- und Regierungschef wird. Umfragen sagen Johnson eine komfortable Mehrheit voraus; das Ergebnis wird an diesem Dienstag verkündet.

Bislang bessert sich der exzentrische Politiker sein Abgeordnetengehalt mit einem Honorar vom Daily Telegraph für eine wöchentliche Kolumne auf: ordentliche 275 000 Pfund im Jahr. Darauf wird er als Premier verzichten müssen. Als Regierungschef verdient er gut 150 000 Pfund jährlich - finanziell wäre sein politischer Aufstieg also ein Abstieg.

Einige Minister wollen Johnsons Kurs nicht mittragen

Formal steht dieser Aufstieg erst am Mittwoch an. Theresa May wird Königin Elizabeth II. am Nachmittag im Buckingham Palace über ihren Rücktritt informieren. Danach wird sich der neue Premier mit der Queen treffen, bevor er zu seinem Amtssitz 10 Downing Street fährt.

Es wird erwartet, dass er noch am Abend die wichtigsten Minister ernennt. Favorit Johnson will nur solche Politiker zum Minister küren, die wie er bereit sind, das Land Ende Oktober zur Not ohne gültigen Vertrag austreten zu lassen. Schatzkanzler Philip Hammond, Justizminister David Gauke und Alan Duncan, Staatssekretär im Außenministerium, verkündeten daher, bei May ihren Rücktritt einzureichen. Sie wollen Johnsons Kurs nicht mittragen und mit ihrem Schritt einer Entlassung durch den mutmaßlich neuen Premier zuvorkommen.

Johnsons Rivale für das Amt des Premiers, Jeremy Hunt, ist Außenminister. Er schließt eine weitere Verschiebung des Austritts nicht aus. Das spräche dagegen, im Kabinett bleiben zu dürfen. Andererseits wäre es ein Signal, Gräben in der Partei überwinden zu wollen, würde Johnson an seinem Konkurrenten Hunt festhalten. Zumal ein Wechsel im Außenministerium wegen der Irankrise zu einem ungünstigen Zeitpunkt käme. Beobachter spekulieren, dass Johnson Hunt nur dann in der Regierung dulden wird, wenn das Wahlergebnis überraschend knapp ausfällt.

Sajid Javid gilt als Favorit für den Posten des Schatzkanzlers

Als Favorit für den Posten des Schatzkanzlers gilt Sajid Javid, der bisherige Innenminister. Johnsons Kolumnenblatt, der Daily Telegraph, schreibt zudem, der neue Premier wolle David Davis wieder ins Kabinett holen - als Schatzkanzler oder Außenminister. Davis war Brexit-Minister und trat im vorigen Sommer zusammen mit Johnson aus Protest gegen Mays Austrittskurs zurück. Davis' Nachfolger Dominic Raab warf nach vier Monaten aus dem gleichen Grund hin. Er könnte unter Johnson Justiz- oder Innenminister werden, heißt es. Als Kandidat für das Amt des Brexit-Ministers wird Steve Baker genannt, der Vizechef jener Gruppe in der konservativen Fraktion, die stets für die härteste aller harten Brexit-Varianten eintritt.

Johnsons Brexit-Strategie beruht auf der Hoffnung, dass Brüssel ihn für ausreichend unberechenbar und radikal hält und ihm tatsächlich zutraut, das Königreich ohne gültigen Vertrag aus der EU zu lotsen. Bei solch einem ungeregelten Brexit würden sofort Zölle und Zollkontrollen eingeführt; es drohen Staus und Chaos an den Häfen. Die Wirtschaft würde leiden - vor allem in Großbritannien, aber auch in vielen verbleibenden EU-Staaten wie Irland oder Deutschland. Um das zu vermeiden, würde Brüssel den ungeliebten Austrittsvertrag im Sinne Londons ändern, argumentiert Johnson. Dies lehnt die EU bislang ab.

Die große Mehrheit der Abgeordneten im britischen Parlament will jedoch einen Chaos-Brexit verhindern. Der scheidende Schatzkanzler Hammond sagte, er werde mit anderen Abgeordneten versuchen, solch einen Kurs zu stoppen. Er schloss noch nicht einmal aus, bei einem Misstrauensantrag die Opposition zu unterstützen.

Johnson könnte sehr schnell merken, dass es einfacher ist, Premier zu werden, als Premier zu bleiben.

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SZ vom 23.07.2019/fie
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