Süddeutsche Zeitung

Großbritannien:Bestürzung über Mord an Jo Cox

Der gewaltsame Tod der 41-jährigen Labour-Abgeordneten lässt die Nation innehalten. Ob der Täter ein politisches Motiv hatte, ist bislang noch ungeklärt.

Von B. Finke, D. Brössler, London

Politiker aus aller Welt haben ihr Entsetzen über den Mord an der britischen Parlamentsabgeordneten Jo Cox geäußert. In Großbritannien wehen die Fahnen auf halbmast; Gegner und Befürworter eines Austritts des Landes aus der EU haben ihre Kampagnen vorerst gestoppt. Premierminister David Cameron brach seinen Staatsbesuch in Gibraltar ab. Der Konservative rief zu Toleranz auf. "Wo wir Hass sehen, wo wir Spaltung sehen, wo wir Intoleranz sehen, müssen wir sie zurückdrängen", sagte er am Freitag bei einem Besuch nahe dem Tatort in Nordengland. Gemeinsam mit Labour-Chef Jeremy Corbyn legte der Premier dort Blumen nieder.

Die Hintergründe der Tat sind weiterhin unklar. Cox wurde am Donnerstagmittag im Dorf Birstall, in ihrem nordenglischen Wahlkreis, auf offener Straße getötet. Der Täter schoss mit einer Pistole auf sie und stach danach auf die am Boden liegende Frau ein. Die Polizei nahm in der Nähe einen 52-Jährigen fest, der in Birstall lebt. Der alleinstehende Arbeitslose litt unter psychischen Problemen, war aber in Behandlung. Angehörige des mutmaßlichen Täters beteuern, er sei ein unpolitischer Mensch, allerdings sagten Zeugen, der Mann habe bei seinem Angriff "Britain first" gerufen, Großbritannien zuerst. So heißt eine rechtsradikale Partei, die Stimmung gegen Einwanderer macht. Zudem soll der Mann ein Unterstützer der National Alliance gewesen sein, einer amerikanischen Neonazi-Organisation. Er habe bereits im Jahr 1999 bei der Gruppe ein Handbuch zum Eigenbau von Pistolen bestellt, berichtet das Southern Poverty Law Center, eine Anti-Rassismus-Organisation aus den USA. Die Polizei teilte am Freitagabend mit, dass sie sich in ihren Ermittlungen auf den rechtsextremen Bereich konzentriere.

Der Angriff auf Cox sei vermutlich geplant worden, so die Polizei.

Die Tat ist der erste Mord an einem britischen Parlamentarier seit 1990. Damals tötete die nordirische Terrorgruppe IRA einen Abgeordneten mit einer Autobombe.

Einwanderung ist das wichtigste Thema in der Kampagne der Befürworter eines Austritts Großbritanniens aus der EU. Das Brexit-Lager versucht zudem, seine Kampagne als Kampf des Volkes gegen vermeintlich abgehobene pro-europäische Eliten darzustellen. Jo Cox setzte sich für den Verbleib in der EU ein sowie für Flüchtlinge. Sollte sich herausstellen, dass der Täter sie deswegen ermordete, würde das der Kampagne des Austritts-Lagers schwer schaden, erwarten Fachleute.

Die Briten stimmen am Donnerstag darüber ab, ob das Land die EU verlassen soll. Umfragen sagen ein enges Rennen voraus. Am Freitag legten Aktienkurse in Europa und das britische Pfund zu, weil Investoren die Gefahr eines Brexit nach dem Mord als geringer einschätzen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel rief nach dem Mord zu einem respektvolleren Umgang in der politischen Debatte auf. "Ich glaube, dass die Lehre ganz allgemein daraus sein muss, dass wir einander mit Respekt begegnen müssen, auch wenn wir unterschiedliche politische Auffassungen haben." EU-Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker schrieb auf Twitter, er sei "zutiefst schockiert". Ein Sprecher der Kommission sagte, die 41-jährige Cox habe viele enge Freunde in Brüssel gehabt: "Sie betrauern einen Verlust, der schmerzhaft und schwer zu ertragen ist."

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SZ vom 18.06.2016
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