Großbritannien:Alle gegen alle - der Brexit spaltet das Land

Die zunehmende Ungleichheit war der Nährboden, auf dem die teils perfide Kampagne der EU-Gegner wachsen konnte. Jetzt stehen Alte gegen Junge, Nord gegen Süd, Arbeiter gegen Eliten. Und nun?

Kommentar von Christian Zaschke

Allmählich setzt bei vielen Briten, die für den EU-Austritt gestimmt haben, die große Ernüchterung ein. Das liegt daran, dass immer deutlicher wird, in was für einen Schlamassel sich das Land gebracht hat. Und wie sehr das Vereinigte Königreich zu einer geteilten Nation geworden ist.

Nach dem Referendum ergibt sich folgendes Bild: Die Konservative Partei ist tief gespalten, die Labour-Partei völlig zerstritten, Schottland und Nordirland fühlen sich von England und Wales hintergangen, nie war auch die innerenglische Diskrepanz zwischen London und dem Norden des Landes größer. Die Jungen, die mit riesiger Mehrheit für den Verbleib gestimmt haben, sind sauer auf die Alten, die mehrheitlich gegen die EU sind, die gebildete, proeuropäische Mittelschicht und die Arbeiterklasse stehen einander mit Unverständnis gegenüber.

Nigel Farage, Chef der EU-feindlichen UK Independence Party, sagte, das sei der "Sieg der anständigen Leute" gewesen. Was soll das heißen? Dass es knapp der Hälfte der Briten an Anstand mangelt? Also jener Hälfte, die sich nicht von seinem Populismus hat einlullen lassen?

Die britische Gesellschaft war immer ein komplexes, vielfältiges Gebilde, und das Klassensystem ist niemals wirklich abgeschafft worden. Dennoch wohnte ihr eine große Kohärenz inne, was daran liegt, dass die britische Identität über Jahrhunderte gewachsen ist und sich durch ein ungebrochenes Verhältnis zur eigenen Geschichte auszeichnet. Nun fühlt es sich an, als sei auf der Insel der Streit aller gegen alle ausgebrochen, und es ist weit und breit niemand in Sicht, der als einende Kraft wirken könnte.

Halbwahrheiten und surreale Versprechen

Besonders bemerkenswert ist, wie viele Briten sich für eine Kampagne empfänglich gezeigt haben, die zu einem Gutteil auf Halbwahrheiten, surrealen Versprechen, Ignoranz und dem Schüren von Angst vor Zuwanderung basierte. In den Tagen nach der Abstimmung haben viele Wähler ihre Gründe für die Ablehnung der EU genannt. Es seien zu viele Muslime im Land, es werde zu viel im Grüngürtel gebaut, man habe damit gerechnet, dass die eigene Stimme ohnehin nicht zähle.

Es war absurd und hatte in vielen Fällen mit der EU schlicht nichts zu tun. Nicht wenige Briten haben für den Austritt gestimmt, weil es ihnen in der Wahl zuvörderst darum ging, dagegen zu sein. Wogegen, war dabei weitgehend egal.

Warum sollten die Abgehängten den Eliten in London glauben?

Dass vor allem weniger gebildete, ältere und ärmere Briten dieses diffuse Dagegen geäußert haben, heißt nicht, dass man deren Sorgen und Ängste nicht ernst nehmen müsste. Die Wahl lässt sich auch lesen als Folge der Finanzkrise und der Eliten-Skepsis, die sich daraufhin entwickelt hat. Als Folge einer Sparpolitik der Tories, die dazu führte, dass sich viele Menschen im Land abgehängt fühlen. Als Folge der Tatsache, dass in der Londoner City Millionen verdient werden, während in Sunderland in manchen Familien mittlerweile die dritte Generation arbeitslos ist.

Warum sollten diese Menschen den Eliten in London glauben, den Politikern und den Experten, wenn diese sagen, es sei essenziell, in der EU zu bleiben, weil sich sonst alles zum Schlechten wende? Viel schlechter geht es ja ohnehin nicht.

Die wachsende Ungleichheit im Land war der Nährboden, auf dem die teils perfide Kampagne der EU-Gegner wachsen konnte. Die Labour-Partei, die sich traditionell der Arbeiter annimmt, hat in diesem Wahlkampf vollkommen versagt, weil sie es nicht schaffte, den Ressentiments und Lügen eine eigene, proeuropäische Erzählung entgegenzusetzen. Eine, in der es etwa auch um die Verdienste der EU für Arbeitnehmer hätte gehen können.

Hoffnung auf Labour

Es ist Premierminister David Cameron, der durch die Ansetzung des Referendums für die aktuelle Lage verantwortlich ist. Aber es ist die Labour-Partei mit ihrem in der EU-Frage so halbherzigen Chef Jeremy Corbyn, die sich fragen muss, ob sie wirklich genug getan hat, um ihre einstigen Stammwähler zu erreichen.

Dennoch liegen aus proeuropäischer Sicht die Hoffnungen jetzt auf Labour. Wenn die Konservativen im Herbst einen neuen Vorsitzenden wählen, würde dieser wohl Neuwahlen anberaumen, damit seine Brexit-Regierung ein belastbares Mandat hätte. Sollte es Labour gelingen, den internen Streit rasch beizulegen, einen Vorsitzenden zu wählen, der eine glaubwürdige Alternative als Premierminister wäre - und das ist Jeremy Corbyn nicht -, und einen proeuropäischen Wahlkampf führte, hätte die Partei eine reelle Chance, die Abstimmung zu gewinnen.

Und wenn die Briten sich tatsächlich im Herbst mehrheitlich von den Tories abwendeten und eine proeuropäische Regierung wählten: Wäre das nicht gewissermaßen ein zweites Referendum, mit anderem Ausgang? Zugegeben, wahrscheinlich ist das nicht. Aber möglich ist es.

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