Großbritannien:Ein Abgang wider Willen

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Wie lange noch wird Boris Johnson in Downing Street Number 10 ein und aus gehen? Am Donnerstag kündigte er vor dem Amtssitz seinen Rückzug an. (Foto: Leon Neal/Getty Images)

Der Druck wurde zu groß: Boris Johnson kündigt seinen Rückzug an. Seinen Posten als britischer Premier will er erst räumen, wenn ein Nachfolger gefunden ist - was bis Oktober dauern kann. Kandidaten bringen sich schon in Stellung.

Von Christoph Koopmann, München

Der britische Premierminister Boris Johnson hat am Donnerstag bekannt gegeben, dass er als Vorsitzender der Konservativen Partei zurücktreten wird. Er wolle aber als Parteiführer und folglich auch als Regierungschef noch so lange dienen, bis ein Nachfolger gefunden ist, sagte Johnson am Mittag vor seinem Amtssitz. Dies könnte, bedingt durch die Sommerpause, bis Oktober dauern. Der genaue Zeitplan für den folgenden Prozess wird Johnson zufolge in der kommenden Woche bekannt gegeben. "Es ist nun eindeutig der Wille der konservativen Partei im Parlament, dass es einen neuen Anführer für die Partei gibt und damit auch einen neuen Premierminister", sagte Johnson, der beide Ämter seit drei Jahren innehat.

Oppositionsführer Keir Starmer, Vorsitzender der Labour-Partei, forderte Johnson am Donnerstag zum sofortigen Rücktritt auf. "Er muss komplett gehen." Johnson habe das Land "belogen, betrogen und ins Chaos gestürzt". Starmer drohte damit, ein Misstrauensvotum im Unterhaus anzustreben, sollte Johnson mit seinem endgültigen Rückzug tatsächlich noch warten wollen. Erst vor einem Monat hatte Johnson ein Misstrauensvotum seiner Tory-Fraktion nur knapp überstanden.

Mit Johnsons Ankündigung beginnt auch die Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin in Downing Street No. 10. Als aussichtsreiche Kandidatin gilt Außenministerin Liz Truss, die in den vergangenen Tagen zunächst zu Johnson gehalten hatte, am Donnerstag jedoch sagte, der Premier habe mit seiner Rückzugsankündigung "die richtige Entscheidung getroffen". Auch Rishi Sunak und Sajid Javid könnten sich bewerben - sie hatten ihre Posten als Finanz- respektive Gesundheitsminister am Dienstag niedergelegt und damit den Anfang für einen regelrechten Exodus von Regierungsbediensteten eingeleitet. Als Kandidat gilt auch Verteidigungsminister Ben Wallace.

Allein fünf Minister haben in den vergangenen zwei Tagen ihre Ämter zur Verfügung gestellt. Dazu kamen 50 weitere Funktionsträger. Seinen Wohnungsbauminister Michael Gove hat Johnson am Mittwochabend selbst entlassen, nachdem dieser ihm den Rücktritt nahegelegt hatte.

Kein Eingeständnis von Fehlern

In den Stunden vor seiner Erklärung am Donnerstag hatten zahlreiche Kabinettsmitglieder versucht, Johnson zum Rücktritt zu bewegen. Der Premier sagte in seinem Statement, es sei "seltsam, die Regierung auszuwechseln, wenn wir so viel liefern", wenn das Mandat so stark sei und die wirtschaftliche Situation national wie international "so schwierig". "Ich bereue, dass ich nicht erfolgreich war in diesen Diskussionen, und es ist schmerzhaft, so viele Ideen und Projekte nicht durchziehen zu können." Eigene Fehler gestand er ansonsten nicht ein.

Zu denen, die ihn vom Rückzug hatten überzeugen wollen, gehörten Berichten zufolge unter anderem Innenministerin Priti Patel und der erst wenige Stunden zuvor neu berufene Finanzminister Nadhim Zahawi. In einem Brief, den Zahawi am Donnerstagmorgen auf Twitter veröffentlichte, schrieb dieser: Das Land verdiene eine Regierung, "die nicht nur stabil ist, sondern auch mit Integrität handelt". Zunächst hatte Johnson nicht einlenken wollen, genauso wenig wie bei einem Auftritt im britischen Unterhaus am Mittwoch. Den abtrünnigen Kabinettsmitgliedern warf er vor, einem "Herdentrieb" gefolgt zu sein.

Auslöser für die tiefe Regierungskrise ist Johnsons Umgang mit einem neuerlichen Skandal. Im Februar hatte der Premier und Tory-Chef dem Abgeordneten Chris Pincher in ein wichtiges Parteiamt verholfen. Zu diesem Zeitpunkt gab es Vorwürfe der sexuellen Belästigung gegen Pincher - Anfang dieser Woche wurde bekannt, dass Johnson davon gewusst haben muss - was dieser zunächst geleugnet hatte.

Zerstörte Vertrauensbasis

Das Vertrauen vieler Regierungsmitglieder in ihren Premier war nach den zahlreichen Affären der vergangenen Monate, etwa "Partygate", mit dieser Volte endgültig zerstört. Am späten Mittwochabend reichte auch Wales-Minister Simon Hart seinen Rücktritt ein. Er schrieb dem Premierminister in einem Brief: "Kollegen haben öffentlich und im Vertrauen ihr Bestes getan, Ihnen zu helfen, das Ruder herumzureißen. Doch mit Trauer stelle ich fest, dass wir den Punkt verpasst haben, an dem dies möglich war." Donnerstagmorgen folgten Bildungsministerin Michelle Donelan, die nicht einmal zwei Tage im Amt gewesen war, und Nordirland-Minister Brandon Lewis. "Eine anständige und verantwortungsvolle Regierung braucht Ehrlichkeit, Glaubwürdigkeit und gegenseitigen Respekt", schrieb Lewis an den Premier. "Ich glaube nicht, dass diese Werte noch hochgehalten werden."

Am Donnerstagvormittag debattierte das britische Unterhaus, ob Johnsons Regierung nach all den Abgängen und angesichts des Vertrauensverlustes überhaupt noch funktionsfähig sei. Johnson bekräftigte, er habe neue Minister bestimmt, mit denen er vorerst die Geschäfte weiterführen will.

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