Daten-Analyse:"Es steht deutlich mehr von der SPD im Koalitionsvertrag"

Groko: Der Koalitionsvertrag trägt stärker die Handschrift der SPD als von CDU/CSU.

Angela Merkel und Volker Kauder präsentieren den Koalitionsvertrag von Union und SPD.

(Foto: dpa)

Die SPD-Spitze ist überzeugt, dass sie in den Verhandlungen mit der Union viel erreicht hat. Eine Analyse mittels künstlicher Intelligenz aus Karlsruhe scheint das zu bestätigen. Fragen an Sven Körner, der die Software mit entwickelt hat.

Interview von Markus C. Schulte von Drach

Nach den Verhandlungen über den Koalitionsvertrag beginnt nun die Diskussion, welche Seite am Ende wohl mehr für sich herausholen konnte. In der Union gibt es Stimmen, die sagen, man sei der SPD zu sehr entgegengekommen. SPD-Chef Martin Schulz betonte, der Vertrag würde weitgehend eine "sozialdemokratische Handschrift" aufweisen. Das Karlsruher Unternehmen thingsThinking, eine Ausgründung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), hat mit einer künstlichen Intelligenz überprüft, wie viel sich von den jeweiligen Verhandlungspartnern im Koalitionsvertrag tatsächlich wiederfindet. Sven Körner erklärt, was dabei herausgekommen ist.

SZ: Von wem steckt denn nun mehr im Koalitionsvertrag?

Sven Körner: Ausgehend von den Parteiprogrammen lässt sich ziemlich sicher sagen: Es steht deutlich mehr von der SPD im Koalitionsvertrag als von der CDU/CSU. Zumindest quantitativ. Etwa 60 bis 70 Prozent des Inhalts gehen auf die SPD zurück, und etwa 30 bis 40 Prozent auf die Union.

Wie hat Ihre künstliche Intelligenz das herausgefunden?

Wir haben unsere Maschine mit den beiden Wahlprogrammen und dem Vertrag gefüttert. Das Besondere ist, dass sie nicht nur die Texte vergleicht, sondern auch den Inhalt von Aussagen. Das ist nicht trivial. Wenn ich zum Beispiel sage, "Ich verfolge Sie", oder "Sie laufen vor mir weg", dann sind das völlig verschiedene Sätze. Aber unsere Maschine erkennt, dass sie inhaltlich gleich sind. Wir sind in der Kaffeepause auf die Idee gekommen, dass wir sie auch den Koalitionsvertrag prüfen lassen könnten. Und nach ein paar Sekunden war das Ergebnis da.

Können Sie etwas genauer erklären, wie Ihre Maschine arbeitet?

Sie hat den Koalitionsvertrag in etwa 8200 Sätze und 4500 Absätze aufgeteilt und auf Ähnlichkeiten mit den Sätzen in den Programmen geprüft. Im ersten Durchgang, dem freien Vergleich, durfte die Maschine stärker interpretieren. Etwa 75 Prozent der Bedeutungsähnlichkeiten gingen demnach auf das SPD-Papier zurück, nur fast 25 Prozent auf das Unions-Programm. Das ist allerdings noch unscharf. Sie und ich würden bestimmte Inhalte vielleicht unterschiedlich interpretieren, das kann der Maschine auch passieren.

Also haben Sie die Kriterien verschärft.

Genau, im moderaten Vergleich musste die Maschine genauer hinsehen - und hat semantische Ähnlichkeiten noch bei etwa 3600 Sätzen von der SPD gefunden, und bei nur etwa 1000 von CDU/CSU. Bei den übrigen Sätzen konnte sie keine Entscheidung treffen. Es gibt ja auch Punkte, wo beide Parteien mehr oder weniger das Gleiche sagen. Wo die Maschine eine Entscheidung getroffen hat, ist das Verhältnis aber sogar besser als drei zu eins für die SPD.

Wenn das Programm einen strikten Vergleich vornimmt, bleiben für die SPD noch 113 Sätze, für die CDU/CSU noch 49 Sätze übrig, die sich im Vertrag finden. Die SPD hat sogar viele Sätze aus ihrem Programm wortwörtlich in den Koalitionsvertrag einbringen können.

Das ist wieder ein Verhältnis von etwa 70 Prozent zu 30 Prozent.

Dass immer ein ähnliches Verhältnis herauskommt, ist ein Indiz dafür, dass die Maschine richtig interpretiert. Da die Wahlprogramme sich aber schon zu etwa einem Drittel decken, können die Daten etwas verzerrt sein. Vielleicht sollten wir eher von 60 zu 40 Prozent ausgehen.

Vielleicht liegt Ihre Maschine aber auch jedes Mal daneben?

Das könnte theoretisch sein. Wir haben deshalb selbst 150 Stichproben unter den Punkten mit Bedeutungsähnlichkeit überprüft. Außerdem haben wir Experten aus dem Bereich Legal Technology und von diversen Kanzleien gebeten, uns zu unterstützen. Ihre Einschätzung deckt sich mit unserer. Die Maschine hat offenbar richtig gearbeitet. Außerdem haben wir auch noch die Vergleichsrichtung umgedreht und geprüft, wie viel vom Koalitionsvertrag sich in den Programmen wiederfindet. Das war deutlich mehr beim SPD-Papier. Das alles scheint zu bestätigen, was ja auch viele Experten sagen: Die SPD hat offenbar gut verhandelt.

Haben Sie Beispiele dafür, wo sich das SPD-Programm wiederfindet, das Unions-Programm aber nicht?

Im Koalitionsvertrag steht zum Beispiel: "Das Wohl der Kinder muss dabei im Zentrum stehen." Im SPD-Programm heißt es: "Das Wohl der Kinder muss dabei immer im Mittelpunkt stehen." Bei der Union gibt es lediglich einen Satz, der lautet, "Wir wollen, dass es Deutschland, unseren Kindern, Enkelkindern und uns selbst auch künftig gut geht."

Oder nehmen Sie den Satz im Vertrag: "Alle Menschen sollen unabhängig von ihrer sexuellen Identität frei und sicher leben können - mit gleichen Rechten und Pflichten." Der findet sich exakt so im SPD-Programm. Im Unions-Programm steht nur etwas davon, dass man die sexuelle Selbstbestimmung bereits gestärkt habe.

Konnte sich die SPD auch dort durchsetzen, wo es ihr besonders wichtig gewesen sein dürfte?

Das können wir anhand einer quantitativen Analyse nicht sagen. Es könnte sein, dass die Union in neun von zehn Punkten Zugeständnisse gemacht hat, um dafür einen besonders wichtigen Punkt durchzubringen. Ich glaube persönlich auch nicht, dass Frau Merkel sich im Verhältnis drei zu eins über den Tisch ziehen lassen würde. Aber es ist schon auffällig, dass die SPD so viel mehr im Vertrag stehen hat.

Für eine qualitative Analyse müssten die Papiere nach Themenbereichen zerschnitten werden, um sie einzeln zu vergleichen. Zum Beispiel "Soziales", "Digitalisierung", "Energie". Dann müssten Fachleute sagen, welche Bereiche den Parteien besonders wichtig sind. Das würde den Rahmen unserer Kaffeepause sprengen.

Wofür setzen Sie Ihre Maschine sonst ein?

Sie hilft vor allem Juristen oder Wirtschaftsprüfern. Wenn ein Unternehmen etwa ein Großprojekt realisieren soll, kann es Tage dauern, bis die Fachleute die vielen Verträge, die dazu notwendig sind, juristisch geprüft haben. Unsere Maschine kann dagegen innerhalb von Sekunden aufzeigen, dass es in den Unterlagen Passagen gibt, die mit den Statuten der Firma nicht vereinbar zu sein scheinen. Die müssen dann besonders aufmerksam geprüft werden.

Die Maschine kann auch auf die Erfahrungen zurückgreifen, die das Unternehmen bereits gemacht hat, und die sich in älteren Verträgen niedergeschlagen haben. Sie kann dann Vorschläge machen, wie der aktuelle Vertrag aussehen könnte. So lässt sich vermeiden, dass Fehler wiederholt werden.

Könnten man den nächsten Koalitionsvertrag nicht einfach von einer künstlichen Intelligenz errechnen lassen? Es klingt so, als würde das schneller gehen.

Ganz klar: Nein. Bei Verhandlungen geht es eher um gefühlte Wahrheiten. Jeder Psychologe wird das bestätigen. Das zu leisten ist eine Maschine nicht im Stande.

Sie kann allerdings hier - wie bei anderen Verträgen auch - helfen, schneller die Passagen zu finden, die es wert sind, Verhandlungszeit zu investieren. Sie könnte helfen, den Fokus für die Verhandlungen zu schärfen.

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