Grillo und das Erbe des Antifaschismus:Italien auf dem Weg in die Dritte Republik

Italienische Flagge am Denkmal für den Unbekannten Soldaten in Rom

Italienische Flagge am Denkmal für den Unbekannten Soldaten in Rom

(Foto: Bloomberg)

Einst wurde der italienische NS-Widerstand als Zivilreligion zelebriert, dann beschönigte das Berlusconi-Lager den Mussolini-Faschismus. Und nun? Wie Italiens politische Kaste die antifaschistische Kultur instrumentalisiert hat.

Von Lutz Klinkhammer, Rom

Das italienische Wahlergebnis ist eine Sensation, obwohl man das Ergebnis erahnen konnte. Zwei Bollwerke, die sich im Wahlkampf gegenüberstanden, sind soeben von einem Komiker gesprengt worden. Alberto Sordi, der italienische Heinz Rühmann, hat einmal gesagt: "Wenn man scherzt, muss man es ernst meinen." Beppe Grillo ist es bitterer Ernst damit, wenn er der wohlgenährten politischen Klasse Italiens die rote Karte zeigt.

Die Linke ist nun in einem Dilemma: geht sie eine große Koalition mit Medienstar Berlusconi ein, wird Grillos Fünfsternebewegung in Kürze fünfzig Prozent der Wähler hinter sich haben. Da Ministerpräsident Monti als Mehrheitsbeschaffer gescheitert ist, bleibt nur eine Absprache mit dem Komiker. Auch wenn die italienische Innenpolitik der letzten 20 Jahre für viele Überraschungen gut war, ist eine solche Konstellation neu.

Dies zeigt ein Blick auf die jüngere Vergangenheit: Bis zum Fall der Mauer war die Welt der italienischen Parteien noch fest gefügt. Diese waren darauf aus, die Kommunisten, mit denen man gemeinsam den Krieg gewonnen hatte, auf nationaler Ebene von der Macht fernzuhalten. Mit einer interessanten Taktik. Man besetzte nämlich das ureigenste Feld der Kommunistischen Partei: die Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand. Dies geschah bereits zu Kriegsende.

Am 30. April 1945, als in Berlin noch die Artillerie feuerte und Adolf Hitler seinem Leben ein Ende bereitete, schrieb Paolo Emilio Taviani, Gründer der christdemokratischen Partei (DC) in Ligurien und Mitglied des dortigen nationalen Befreiungskomitees, an seinen Parteifreund Alcide De Gasperi: "Wir haben großartige Tage erlebt. Genua war wunderbar: aus eigener Kraft haben wir 12.000 Deutsche liquidiert." Noch hatten sich die deutschen Truppen in Italien gar nicht ergeben, da wurde schon der Mythos des italienischen Widerstands geboren.

Das Wunder von Genua bestand vor allem darin, dass das Gros der deutschen Truppen sich ohne größere Kämpfe und Blutvergießen ergab - nach Verhandlungen mit den Partisanen, die von einem ortsansässigen deutsch-italienischen Ehepaar vermittelt worden waren. Während die Deutschen dem Endkampf entkamen und in alliierte Gefangenschaft gingen, wurde Diktator Mussolini, Hitlers Verbündeter, von Partisanen erschossen. Die von den italienischen Faschisten in ihrer "Sozialrepublik" entfesselte Gewalt wandte sich nun gegen sie selbst.

Die Erinnerung an den blutigen Bürgerkrieg 1943/45 blieb präsent, doch politisch wurde sie bald verdrängt, um dem Land den Weg in die Nachkriegsdemokratie zu erleichtern. Man brauchte einen Pakt der Versöhnung, der die Spaltung des Landes in Faschisten und Antifaschisten beredt verschwieg. Dieser Pakt hielt bis zum Fall der Mauer 1989.

Dass sich christdemokratische Spitzenpolitiker mit dem Widerstandskampf gegen Nationalsozialismus und Salò-Faschismus identifizierten, hat die italienische Demokratie für Jahrzehnte im Innersten zusammengehalten. Doch erst einmal zerbrach das antifaschistische Parteienbündnis, das den Übergang von der Diktatur zur Demokratie, vom Bürgerkrieg zur Republik gestaltet hatte, unter den Einwirkungen des Kalten Kriegs. Die Verfassung der Republik wurde noch aus dem Geist des Widerstands heraus formuliert, doch der Antikommunismus prägte die politische Kultur der nächsten anderthalb Jahrzehnte.

Italienische Partisanen beim Begräbnis eines Angehörigen, 1944 Massaker Italien

Mythos Resistenza: Italienische Partisanen 1944 tragen einen Toten zu Grabe nach einem deutschen Massaker im Dorf Marzabotto in der Region Emilia-Romagna.

(Foto: DPA)

In den fünfziger Jahren wurden sogar die Neofaschisten innenpolitisch wieder wichtig, um einigen rein christdemokratischen Regierungen parlamentarische Mehrheiten zu beschaffen. In diesen Jahren teilte Taviani als Verteidigungsminister die Auffassung, dass man besser davon absehe, Auslieferungsanträge zu stellen, die deutsche Soldaten betrafen, die in Italien Kriegsverbrechen begangen hatten. Es hätte die Versöhnungspolitik gestört.

Im Sommer 1960 zeichnet sich eine neue Entwicklung ab: Als die Neofaschisten in Genua, der Hochburg des Widerstands, einen Parteitag abhalten wollen, kommt es zu Tumulten. Die Regierung Tambroni muss zurücktreten. Indem er die Resistenza würdigt, gibt der Christdemokrat Aldo Moro ein Signal für eine Öffnung nach links. Ab 1963 regieren dann Christdemokraten und Sozialisten gemeinsam. Diese Koalition wird Jahre später um die kleineren laizistischen Parteien erweitert und dominiert bis Anfang der neunziger Jahre die italienische Innenpolitik, auch wenn die Ministerpräsidenten häufig wechseln.

Grillos Anhänger halten die politische Kaste für völlig diskreditiert

Der Widerstand wird als Zivilreligion zelebriert - Kollaboration und Bürgerkrieg bleiben ausgeblendet. Es bedurfte dieser mythischen Überhöhung der Resistenza, da die Legitimation der politischen Parteien sich nun ganz wesentlich auf die Erinnerung an den Kampf gegen die deutsche Besatzung und die faschistische "Sozialrepublik" stützt. Es regieren weiterhin die Christdemokraten als hegemoniale Kraft, während die Partei, die am stärksten die antifaschistischen Kräfte repräsentiert, die Kommunistische, stillschweigend von der Regierung ferngehalten wird.

Doch gleichzeitig wird sie dem "Verfassungsbogen" zugerechnet, dem Kreis der Parteien, die am demokratischen Neuanfang mitgearbeitet hatten. Ein Machtwechsel war so verhindert. Wer etwas verändern wollte, musste versuchen, neue Kräfte zu kooptieren, um die anderen Parteien zu schwächen. Diesen Weg beschritt der sozialistische Ministerpräsident Bettino Craxi, als er 1987 den neuen Parteichef der Neofaschisten, Gianfranco Fini, zu einem politischen Gespräch einlud. Das schlug hohe Wellen. Denn der erhoffte, aber stets verhinderte "historische Kompromiss" hatte schließlich auf eine Regierungsbeteiligung der Kommunisten abgezielt, nicht auf die der Faschisten.

Als die kommunistischen Regime in Europa stürzten, wurde das christdemokratische Bollwerk in Italien nachhaltig geschwächt. Die Krise bricht aus, als die Mailänder Staatsanwälte ein System von Schmiergeldzahlungen und illegaler Parteienfinanzierung aufdecken: Zwischen den Aprilwahlen 1992 und den Märzwahlen 1994 implodieren vor den Augen der italienischen Öffentlichkeit jene fünf Regierungsparteien, die über Jahrzehnte das politische Leben der Italiener geprägt haben.

Die ewige Oppositionspartei, die kommunistische, verwandelt sich zu einer sozialdemokratisch orientierten Linkspartei, unter Abspaltung verschiedener Gruppen von Altkommunisten. Und schließlich ziehen auch die Neofaschisten nach. Übergangsregierungen wie die des Sozialisten Giuliano Amato wollen Reformen auf den Weg bringen, um die Krise des Parteienstaats zu überwinden. Notenbankgouverneur Ciampi wird mit einer "technischen" Regierung betraut, um die per Volksabstimmung herbei gezwungene Wahlrechtsreform umzusetzen.

In dieser Situation kommt 1994 der mit Craxi eng verbundene Bau- und Medienunternehmer Silvio Berlusconi mit seiner neuen Bewegung "Forza Italia" kometenhaft an die Macht. Dank Berlusconi dürfen die Neofaschisten erstmals seit Kriegsende in die Regierung eintreten und man beginnt, von einer "Zweiten Republik" zu sprechen. Als Berlusconi nach wenigen Monaten scheitert, gelingt es Staatspräsident Scalfaro, einem erfahrenen Christdemokraten, der seit 1946 politisch aktiv ist, meisterhaft, während seiner Amtszeit eine erneute Regierungsbeteiligung Berlusconis zu verhindern.

Als es 1996 zur ersten Regierungskoalition unter Einschluss der Ex-Kommunisten kommt, blasen die neuen Rechtsparteien zum Angriff: Sie wollen den "Verfassungsbogen", aus dem sie ausgeschlossen waren, durch den Gegensatz von Faschismus und Antifaschismus ersetzen. Um Finis Neofaschisten salonfähig zu machen, beschönigt man die faschistische Vergangenheit und betont die Opfer des Bürgerkriegs 1943/45 - ein Thema, das aus innenpolitischen Gründen bis dahin tabuisiert war. Erneut wird die Resistenza gebraucht. Diesmal jedoch als Negativfolie, um die antifaschistische Kultur zu attackieren. In den letzten 15 Jahren hat das Berlusconi-Lager alles getan, um diese bipolare Sicht auf die Vergangenheit wie auf die politische Gegenwart mit medialer Wucht durchzusetzen. Man zielte darauf ab, Italien in eine Präsidialrepublik zu verwandeln.

Die Wahlen vom 24. Februar haben das bipolare System zerstört. Ist die "Dritte Republik" schon angebrochen? Zumindest gibt es nun eine dritte Kraft, die es aus dem Stand zur stärksten Partei gebracht hat und die - wie einst die Kommunistische Partei - die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft verkörpert. Genau wie die Italiener 20 Jahre zuvor sehen die Anhänger der "Fünf Sterne" die politische Kaste als völlig diskreditiert an.

Berlusconis Lager ist immer noch stark, auch wenn ihm sechs Millionen Wähler weggebrochen sind. Doch in Kürze droht ihm eine rechtskräftige Verurteilung. Das wäre das politische Aus, falls dem Milliardär nicht eine Koalitionsabsprache ein hohes Amt und damit eine neue Immunität beschert. Dass nicht nur Berlusconi abtreten muss, sondern auch die linke Nomenklatura, damit das Land von Grund auf reformiert werden kann, meint die Bürgerbewegung der "Fünf Sterne". Intellektuelle wie Massimo Cacciari und der Nobelpreisträger Dario Fo sagen dies deutlich. Wenn sich die unerfahrenen Abgeordneten der "Fünf Sterne" allzu rasch von den alten Parteien vereinnahmen lassen, wird die "Zweite Republik" mit all ihren Problemen jedoch weiter bestehen bleiben.

Ohne tief greifende Reformen wird das Land nicht aus der Rezession herauskommen. Steuererhöhungen helfen wenig. Aller Augen sind jetzt auf Präsident Napolitano gerichtet. Ein Großteil der Italiener hofft auf eine junge Lösung. Doch es könnte auch zu einem Präsidialkabinett und baldigen Neuwahlen kommen. Dann erhielte die geradezu chamäleonartige Verwandlungsfähigkeit des italienischen Parteiensystems schon wieder eine Chance.

Der Autor forscht am Deutschen Historischen Institut in Rom und ist Mitglied der Deutsch-italienischen Historikerkommission.

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