Griechischer Soziolge Kelpanides im Gespräch:"Der organisierte Terrorismus wird wiederaufleben"
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Die Arbeitnehmer werden enorm belastet, Steuerhinterzieher kommen davon: Der griechische Soziologe Michael Kelpanides erläutert, warum die Sparanstrengungen der griechischen Regierung ungerecht und gefährlich für die griechische Gesellschaft sind. Ein Gespräch über die Stimmung gegenüber Deutschen, die Schwierigkeiten eines Neuanfangs für Griechenland und die Gefahr einer Gewalteskalation.
Kathrin Haimerl
Der griechische Soziologe Michael Kelpanides lehrt an der Aristoteles-Universität Thessaloniki - im Moment allerdings nicht: Die Universität ist wegen des 48-stündigen Generalstreiks geschlossen. Am Mittwoch waren auch in Thessaloniki Zehntausende gegen den Sparkurs der griechischen Regierung auf die Straße gegangen, weitere Aktionen sind für diesen Donnerstag geplant. Grund für den wohl größten Arbeitskampf: Das Parlament stimmt über einen Gesetzentwurf der Regierung ab, das weitere, drastische Sparmaßnahmen vorsieht.
sueddeutsche.de: In Athen gehen Hunderttausende auf die Straße, Premier Papandreou spricht von einer kritischen Woche für Griechenland: Ist die Stimmung in Ihrer Heimat tatsächlich so explosiv?
Michael Kelpanides: Fast jede Woche gibt es Aktionen, Streiks, Demonstrationen, Gebäude- und Hochschulbesetzungen, die die Normalität des Tages- und Arbeitsablaufs weitgehend außer Kraft gesetzt haben. Wegen der Abstimmung im Parlament sind an diesem Donnerstag von fast allen größeren Arbeitnehmerorganisationen Aktionen angekündigt. Am Mittwoch gab es Brände vor dem griechischen Parlament und Ausschreitungen in Athen, Thessaloniki und in anderen Großstädten. Das griechische Fernsehen strahlt dramatische Bilder mit Feuer und Rauch aus.
sueddeutsche.de: Welche Gefahr stellt der drastische Sparkurs für die griechische Gesellschaft dar?
Kelpanides: Der Sparkurs ist zwar unvermeidlich, denn es gibt keine Alternative. Aber die Verteilung der Lasten ist falsch, sozial ungerecht und ökonomisch ungeschickt. In der Tat belastet die Regierung die abhängig Beschäftigten, die Rentner und die Konsumenten unverhältnismäßig stark, weil sie wegen des funktionsunfähigen Verwaltungsapparats die großen Steuerhinterzieher nicht zur Kasse bitten kann.
sueddeutsche.de: Drohen bürgerkriegsähnliche Zustände?
Kelpanides: Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hatte bereits in ihrem Economic Survey Greece vom Juli 2009 betont, dass es keine Spielräume für eine weitere Belastung der abhängig Beschäftigten gäbe, da diese schon sehr hohe Einkommensteuern zahlen. Stattdessen riet die OECD dazu, die großen Steuerhinterzieher zu fassen und mehr Transparenz herzustellen. Angesichts dieser Zustände ist mit ziemlicher Sicherheit davon auszugehen, dass es eine zunehmende Gewalt auf den Straßen - auch gegen Personen - geben wird.
sueddeutsche.de: Die Griechen haben für diese Woche den Ausnahmezustand ausgerufen. Kommt es angesichts der Massenproteste zu einer sozialen Umwälzung?
Kelpanides: Nein, denn es gibt keine organisierte, revolutionäre Massenbewegung. Aber es wird zu mehr Ungehorsam von Seiten der Bürger und zu spontanen Gewaltaktionen kommen. Noch gravierender ist, dass der organisierte Terrorismus mit ziemlicher Sicherheit wiederaufleben wird.
sueddeutsche.de: Terrorismus? Was meinen Sie damit?
Kelpanides: In Griechenland war zwischen 1975 und 2002 die Terroristenorganisation des "17. November" aktiv, die im Stile der Rote Armee Fraktion agierte. Sie ermordete Dutzende Griechen und Ausländer, allerdings konnten die Fahndungsbehörden in diesen 27 Jahren keinen einzigen Terroristen fassen. Nach dem Scheitern des Sowjetkommunismus haben die Terroristen selbst aufgegeben. Gegenwärtig gibt es eine ganze Reihe terroristischer Zellen, die bislang noch dilettantisch agieren. Allerdings werden diese jetzt Zulauf bekommen. Daraus könnte eine professionelle Terrororganisation entstehen. Alle Voraussetzungen sind gegeben.
sueddeutsche.de: Braucht das Land einen Neuanfang?
Kelpanides: Ja, aber ich kann beim besten Willen nicht ersehen, woher die Energien und die neuen Impulse kommen sollen. Ich befürchte, dass die erhoffte Erneuerung ähnlich enden könnte wie im Falle Italiens nach dem Tangentopoli-Skandal: Trotz der Bloßstellung der gesamten politischen Klasse blieb der Neuanfang aus. Stattdessen kam - Berlusconi.
sueddeutsche.de: Sie fordern, dass Griechenland aus der Eurozone austreten solle. Warum?
Kelpanides: Verbleibt Griechenland in der Eurogruppe, hat es keine eigene Währung, die es abwerten könnte, um seine Exporte zu verbilligen. So wird Griechenland nie seine Staatsfinanzen stabilisieren und seine Schulden zurückzahlen können. Das gilt im Übrigen in gewissen Abstufungen auch für die anderen PIIGS (Anm. d. Red.: gemeint sind neben Griechenland die krisengebeutelten Euro-Staaten Portugal, Italien, Irland und Spanien). Zwar ist die Einführung der Drachme schwierig und mit Risiken behaftet, die nicht im Einzelnen vorhersehbar sind. Aber es ist die einzige Möglichkeit, die langfristig Erfolg verspricht. Der Tourismus, der die wichtigste Einnahmenquelle des Landes ist, muss unbedingt gestärkt und weiterentwickelt werden. Er würde von einer Abwertung enorm profitieren.
sueddeutsche.de: Wie ist in Griechenland momentan die Stimmung gegenüber den Deutschen?
Kelpanides: Stark antideutsch. Und zwar nicht nur in den Medien, sondern in der Öffentlichkeit allgemein, auch im universitären Umfeld. Dies kommt täglich in Diskussionsbeiträgen im lokalen Uni-Netz zum Ausdruck. Gegenwärtig ist die Rede von den Reparationen, die die Deutschen nicht bezahlt hätten oder von den "Gewinnen" der Deutschen durch die Zinszahlungen der Griechen. Zudem sind gegenwärtig die verrücktesten Verschwörungstheorien im Umlauf.
sueddeutsche.de: Zum Beispiel?
Kelpanides: Etwa, dass das ganze Finanzdebakel Griechenlands arrangiert war. Denn, so die Argumentation, warum hat man Griechenland überhaupt in den Euro-Club hereingenommen, wenn man ohnehin ganz klar wusste, dass es die Voraussetzungen zum Beitritt in die Währungsunion nicht erfüllte? "Also war es arrangiert, um Griechenland auszubeuten!", lautet dann die Schlussfolgerung. Zunehmend wird deshalb gefordert, dass man diese ökonomischen Ausbeutung" durch EU und IWF abschütteln und stattdessen das eigene Schicksal vertrauensvoll in die Hände des makellosen Herrn Putin legen sollte. In der blühenden Phantasie vieler Hellenen bietet dieser aus reiner Liebe zu Griechenland viel billigere Kredite, mit denen man die "EU-Zinswucher" abbezahlen könnte.
sueddeutsche.de: Was erwarten sich die Griechen von den Deutschen?
Kelpanides: Dass sie alle ihre ausstehenden "Schulden" und Kriegsreparationen bezahlen sollen. Diese Darstellung lese ich täglich nicht nur in den Medien, sondern auch in Dutzenden von Diskussionsbeiträgen und Stellungnahmen, die ich über das Uni-Netz bekomme. Denn, so der Glaube, damit wäre man nicht nur die Schulden los, sondern es würde sogar ein Plus für Griechenland herausspringen.
sueddeutsche.de: Welche Schulden und Kriegsreparationen sind hier gemeint?
Kelpanides: Die Reparationen für die von der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg angerichteten Schäden, die Deutschland - ob wahr oder falsch, ich habe es bisher nicht überprüfen können - nicht bezahlt hat. Jetzt kommen immer häufiger und immer größere Beträge ins Spiel, die Deutschland den Griechen als Reparationszahlungen schulden soll.
sueddeutsche.de: Im Gegenzug schürt die Bild-Zeitung in Deutschland die negative Stimmung gegen die Griechen. Sehen Sie einen Ausweg aus dieser Situation?
Kelpanides: Nun, da das Kind in den Brunnen gefallen ist und Neu-Griechenland sich das wahrscheinlich negativste Image in seiner ganzen Geschichte im Ausland zugezogen hat, ist es sehr schwer, etwas Wirksames dagegen zu unternehmen. Ich denke aber, dass die kritischen westlichen Leser, die differenziert denken und zumeist wohl nicht die Bild-Zeitung lesen, zwischen den für das Finanzdebakel politisch Verantwortlichen, die davon unverschämt profitierten, und der großen Zahl derjenigen, die nicht die geringste Schuld daran haben - aber jetzt die Zeche für die illegale Bereicherung der Profiteure zu zahlen haben - unterscheiden werden.