Süddeutsche Zeitung

Griechenland:"Ich sehe mich als Student der Demokratie"

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Kyriakos Mitsotakis ist als Reformer und Modernisierer angetreten. Sein Land sei über den Berg, findet er. Eine Abhöraffäre kratzt nun am liberalen Image des Premiers. Was hätte Griechenland, was Europa bei einer zweiten Amtszeit von ihm zu erwarten? Ein Gespräch.

Von Tobias Zick, Athen

Er ist gerade aus London ins herbstlich verregnete Athen zurückgekehrt, von seinem Auftritt bei einer internationalen Investorenkonferenz hat Kyriakos Mitsotakis rein Erfreuliches zu berichten. "Dort war niemand, der Griechenland noch als Problemfall bezeichnet hätte", sagt der Regierungschef beim SZ-Gespräch Ende November, zurückgelehnt in seinen Bürosessel im Amtszimmer der Villa Maximos, vor sich einen hellgelben Smoothie. "Wir wachsen viel schneller als der Durchschnitt der Euro-Zone. Und nächstes Jahr werden wir noch schneller wachsen, das ist ein stabiler Trend. Die ausländischen Direktinvestitionen hangeln sich von Rekord zu Rekord. Es ist mir wichtig zu erklären, warum Griechenland ein gutes Ziel für Investitionen ist. Griechenland ist über den Berg."

Kyriakos Mitsotakis, Vorsitzender der konservativen Nea Dimokratia (ND), gilt international als der Regierungschef, der Griechenlands Selbstbewusstsein wieder aufgerichtet hat. Doch sein Image als liberaler Modernisierer hat zuletzt gelitten. Eine Abhöraffäre hat ihn Vertrauen auch in der eigenen Partei gekostet; es geht zum einen um formal legales, aber politisch fragwürdiges Ausspionieren von Politikern und Reportern und zum anderen um den Einsatz neuartiger Spionagesoftware im Land. Dennoch, das legen Umfragen nahe, könnte er sich im kommenden Jahr eine zweite Amtszeit sichern. Was hätte Griechenland, was hätte Europa dann von ihm zu erwarten?

"Ich bin ein liberaler Politiker", sagt Mitsotakis über sich, "allerdings im Sinne des klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts." Sein Vater Konstantinos Mitsotakis, der das Land von 1990 bis 1993 regierte, kämpfte als junger Mann auf Kreta im Widerstand gegen die Invasoren der deutschen Wehrmacht, entging zwei Todesurteilen der Nazi-Besatzer. "Er hat mir sehr eindrückliche Geschichten aus der Zeit erzählt", sagt Mitsotakis, "wie er als 25-Jähriger im Gefängnis saß und sich jeden Morgen seinen Anzug anziehen und abwarten musste, wer an dem Tag herausgeholt und erschossen wurde."

Als er zur Welt kam, herrschten die Generäle, die Familie stand unter Hausarrest

Dennoch habe sein Vater, als überzeugter Europäer, als Politiker der Nachkriegszeit enge Beziehungen zu vielen deutschen Politikern gepflegt: "Ihm war bewusst, dass das Geschehene traumatisch war, aber dass Länder sich weiterentwickeln. Das ganze europäische Projekt war ja ein Projekt des Friedens und der Aussöhnung."

Zugleich brachte schon Mitsotakis senior immer wieder ein Thema zur Sprache, das bis heute auf den Beziehungen zwischen beiden Ländern lastet: eine Zwangsanleihe, die das besetzte Griechenland damals an Nazi-Deutschland leisten musste, in Höhe von 476 Millionen Reichsmark. Im Kontext von Reparationsforderungen an die Bundesrepublik "ein sehr spezieller Fall", sagt Mitsotakis jetzt, "und die Sache ist bis heute nicht erledigt. Unsererseits liegt das weiterhin auf dem Tisch, und wir stehen bereit, es in gutem Willen zu diskutieren".

Ende der Sechzigerjahre dann musste sein Vater vor dem damaligen griechischen Militärregime fliehen. "Ich wurde unter der Junta geboren", sagt Mitsotakis, "meine Familie stand unter Hausarrest. Schließlich durften wir nach Paris ausreisen, zu meinem Vater, der aus Griechenland in einem kleinen Boot durch die Ägäis geflüchtet war, bis er bei schrecklichem Unwetter die türkische Küste erreichte."

Da ist, einerseits, diese biografische Prägung, dieses Bekenntnis zur liberalen Demokratie. Eine progressive Klimapolitik, die Stärkung der Rechte von Frauen, Behinderten, Homosexuellen - womit er auch Teile der eigenen konservativen Partei gegen sich aufbrachte. Da sind, andererseits, Kommentare in bislang eher sehr regierungsfreundlichen Zeitungen, die ihn zur Aufklärung von Abhörvorwürfen drängen; da ist der Vorwurf einer "Orbánisierung" Griechenlands, den kürzlich ein Europaabgeordneter seiner eigenen Partei gegen Mitsotakis erhob - um darauf aus der Partei ausgeschlossen zu werden.

Dass es Vergleiche mit Viktor Orbán gab, stört den Griechen sehr

Vergleiche mit Ungarns Regierungschef Viktor Orbán, dem selbsternannten Vorkämpfer der "illiberalen Demokratie" in Europa? Muss einen das nicht gewaltig wurmen, wenn man sich eher als Verfechter des Gegenteils sieht?

"Ja, das stört mich sehr, weil es nicht stimmt", sagt er, und jetzt richtet sich Mitsotakis, der bislang deutlich entspannt in seinem Sessel saß, fast kerzengerade auf. "Ich bin bereit, Fehler einzugestehen", sagt er, etwa im Fall der Abhörung eines Oppositionspolitikers, die im Sommer aufflog: Diese sei "technisch legal" gewesen, "aber es gab ein institutionelles Versagen, deshalb führen wir mit einem neuen Gesetz zusätzliche Filter in Bezug auf Politiker ein. Aber mangelnde Pressefreiheit? Gehen Sie zu einem durchschnittlichen griechischen Kiosk, die Medienlandschaft ist offen und vielfältig." Der Regierungschef klappt eine Mappe auf seinem Schreibtisch auf, blättert durch Schmähtitel der Boulevardpresse: "Jeder kann in Griechenland veröffentlichen, was er will. Es gibt Publikationen, die nach den Standards der Verleumdungsgesetze europäischer Länder nicht bestehen würden."

Die "Reporter ohne Grenzen" haben Griechenland in ihrer Weltrangliste der Pressefreiheit auf Platz 108 herabgestuft, den letzten unter allen EU-Ländern. "Vor uns liegen 40 Diktaturen", sagt Mitsotakis. "Wir stehen hinter Tschad. Das ist absurd." Doch da ist dieses Gesetz vom November 2021. Es bedroht Journalisten mit bis zu fünf Jahren Gefängnis, wenn sie "Falschnachrichten" verbreiten, die "geeignet sind, Besorgnis oder Ängste in der Öffentlichkeit hervorzurufen oder das öffentliche Vertrauen in die Volkswirtschaft, die Verteidigungsfähigkeit des Landes oder die öffentliche Gesundheit zu untergraben". Dieses Gesetz "werden wir ändern, und zwar sehr bald", sagt Mitsotakis jetzt. "Darum kümmere ich mich. Wir haben es wegen Covid erlassen; wir waren mit einer Flut von Falschnachrichten zu Impfungen konfrontiert. Aber im Rückblick war das Gesetz falsch und auch ineffektiv."

Doch es gibt weitere, gewichtige Gründe, die Pressefreiheit in Griechenland in Gefahr zu sehen. Im Sommer wurde bekannt, dass der kritische Wirtschaftsjournalist Thanasis Koukakis nicht nur auf Anordnung der Staatsanwaltschaft vom Geheimdienst überwacht worden war, sondern dass zudem sein Smartphone mit einer neuartigen Spionage-Software namens Predator infiziert worden war.

Wenig später kam heraus, dass auch der Vorsitzende der Oppositionspartei Pasok, Nikos Androulakis, abgehört worden war und auch sein Telefon Ziel eines - erfolglosen - Predator-Angriffs war. Später veröffentlichte die Zeitung Documento Listen Dutzender weiterer mutmaßliche Abhöropfer, darunter Mitglieder aus Mitsotakis' eigener Partei. Auch Ex-Premier Antonis Samaras. "Sollte all das wahr sein", sagte Samaras am Mittwoch, "wäre es zweifellos ein antidemokratischer Irrweg."

Die Justiz gehe allen Vorwürfen nach, sagt der Premier dazu. Der Geheimdienstchef sowie Mitsotakis' Büroleiter, zugleich ein Neffe von ihm, haben infolge der Abhörvorwürfe ihre Posten geräumt. Doch die Frage bleibt: Was wusste er, der Regierungschef, wirklich über die - formal legalen - Abhöraktionen und über den Einsatz von Spionagesoftware?

"Absolut nichts", sagt er. Trägt er selbst dann nicht trotzdem die politische Verantwortung? "Das wird bei den nächsten Wahlen entschieden werden", sagt Mitsotakis. "Bei einer Wahl werden die Leute alle guten Dinge, die die Regierung getan hat, gegen die Fehler abwägen. Wenn ich einen Fehler sehe, ist es mein Job, ihn offen anzusprechen und alles in meiner Möglichkeit Stehende zu tun, um ihn zu beheben. Das tue ich."

Die ND-Mehrheit im Parlament hat am Freitagabend ein neues Gesetz verabschiedet, das die Hürden für legales Abhören deutlich höher legt, und mehr Kontrollinstanzen einführen. Zudem soll es Vertrieb und Einsatz von Spionagesoftware im Land kategorisch verbieten - nachdem die vorige Syriza-Regierung 2019 illegale Überwachung per Gesetz von einer Straftat zur Ordnungswidrigkeit herabgestuft hatte. "Ich hoffe, unser neues Gesetz wird eine Vorlage für andere europäische Länder sein", sagt Mitsotakis. Er sagt aber auch: "Ein Geheimdienst ist keine NGO. Wir leben in einer sehr schwierigen Nachbarschaft, und der Geheimdienst hat einen guten Job dabei gemacht, mich den nötigen Informationen zu versorgen, um unsere nationalen Interessen zu schützen."

Die schwierige Nachbarschaft: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat kürzlich gedroht, man könnte "plötzlich eines Nachts kommen" und griechische Inseln besetzen. Man müsse solche Drohungen "sehr ernst" nehmen, sagt Mitsotakis, auch angesichts der Erfahrungen in Zypern, wo die türkische Armee 1974 den Nordteil der Insel besetzte. "Ich habe sehr deutlich gemacht, dass ich meine Tür immer für den Dialog offen halte. Es war Erdoğan, der gesagt hat, er wolle mich nicht treffen." Die Souveränität griechischer Inseln aber stehe außer Frage: "Wenn die Türkei vorhat, alles auf den Tisch zu legen und über Dinge zu verhandeln, die vor hundert Jahren gelöst worden sind: Sorry, dann habe ich kein Interesse."

Und die Pushbacks? "Schaut auf jene, die Pushforwards betreiben."

Zugleich werden immer wieder Vorwürfe laut, Griechenland misshandle Geflüchtete, die aus der Türkei ins Land kommen, auch die Vereinten Nationen haben Hunderte "informelle Rückführungen" dokumentiert. "Wer uns Pushbacks vorwirft, dem sage ich: Schaut auf diejenigen, die Pushforwards betreiben", sagt Mitsotakis. "Wenn ein Boot die türkische Küste verlässt, dann wissen die dortigen Sicherheitskräfte davon. Sie hätten eine Verpflichtung, es aufzuhalten."

Zugleich fehle es in der EU immer noch an Solidarität in der Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten. Europa müsse einen neuen Umgang mit Migration finden: "Wir brauchen eine hohe Mauer, mit einer großen Tür", sagt er, das Bild hat er von einem Kolumnisten der New York Times übernommen: "Wir müssen unsere Grenzen entschlossen schützen. Wir können uns nicht von Schleppern unsere Migrationspolitik diktieren lassen. Zugleich brauchen wir geregelte Wege der Einwanderung, uns fehlen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, im Bausektor. Wir brauchen Leute, aber wir wollen sie legal im Land."

Die Leute sollen sagen: "Wow, dies ist wirklich ein ganz anderes Land."

Was, wenn Mitsotakis es tatsächlich in eine zweite Amtszeit schafft? "Ich will, dass die Leute nach acht Jahren zurückblicken und sagen: Wow, dies ist wirklich ein ganz anderes Land." Er wolle das immer noch angeschlagene Gesundheitssystem verbessern, das Land international wettbewerbsfähiger machen, zugleich aber Politik für jene Menschen machen, die von den Eliten oft vergessen würden. "Ich sehe mich als Student der Demokratie", sagt Mitsotakis, "ich glaube, wir haben noch viel zu lernen von der klassischen Athener Demokratie, was Bürgerbeteiligung und -engagement angeht."

Für die Gefahren, die Spionagesoftware auf Smartphones für eine Demokratie darstellt, werden sich freilich in den antiken Quellen kaum Hinweise finden. Damals musste man sich noch die Mühe machen, echte Menschen in Holzpferden zu verstecken.

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