Süddeutsche Zeitung

Serie: "Wir sind Europa":"Die Krise muss kein Hindernis sein"

Wie zwei Frauen in Griechenland allen Widerständen zum Trotz Unternehmen gründeten, die ganz neue Wege aus der Wirtschaftskrise aufzeigen.

Reportage von Christiane Schlötzer, Athen

Auf dem Weg in die Zukunft landet man erst einmal im Gestern: vor einem Athener Arbeitsamt. Ein Zettel am Eingang informiert, dass es keinen Zweck hat, sich ab 13.30 Uhr noch anzustellen, weil die Schlange dann schon lang genug ist. Im selben Häuserblock an einer staubigen Ausfallstraße, in einer Wüstenei aus Beton, hat Eleftheria Zourou ihr Unternehmen untergebracht, von dem nicht nur die Gründerin sagt, es habe das griechische Gesundheitswesen "revolutioniert".

Zourou ist 38, groß, trägt ein feuerrotes Jackett und balanciert sicher auf schwarzen High Heels. An einem Handgelenk hat sie ein Tattoo: eine Pistole. Es stammt aus einer Zeit, in der es ihr weniger gut ging als heute. "In Griechenland ist alles zusammengebrochen", sagt sie. Die Zukunftspläne der Eltern für ihre Kinder, die Vorstellung, dass es immer irgendwie aufwärts gehen muss im Leben, so viele Gewissheiten, alles weg. "Aber das kann auch sehr befreiend sein", sagt Eleftheria Zourou.

Als Zourous Vater vor ein paar Jahren an Krebs erkrankte, gab es die griechische Krise noch nicht, aber das Gesundheitssystem war auch schon ziemlich schlecht organisiert. Zourou verzweifelte fast daran. Erst 2012, inmitten der Finanzkrise, entschloss sie sich, selbst etwas dagegen zu tun. "Viele Leute haben mich deshalb für verrückt erklärt." Weil sie ihren Job als Marketingexpertin bei einem großen internationalen Unternehmen dafür aufgab, "weil ich jung war, eine Frau und keine Ärztin".

Aber Zourou wusste, was Rat suchenden Patienten fehlt: Information. Welcher Arzt rechnet mit welcher Kasse ab, in welcher Praxis muss ich selbst zahlen und wie viel, wie bekomme ich rasch einen Termin? So gründete sie das Internetunternehmen "Doctoranytime". 5000 Ärzte in Griechenland sind dort registriert, seit einer Weile auch 1000 Mediziner in Belgien, wohin Zourou expandierte. In wenigen Tagen werden es 20 000 in Mexiko sein. Patienten können die Praxen beurteilen, Ärzte online häufige Patientenfragen beantworten, und es gibt ein transparentes Terminvergabesystem. "Wir sind seit dreieinhalb Jahren profitabel." Neue Investoren brauche sie derzeit nicht, sagt Zourou, sie fand zwei gleich zu Beginn in Griechenland, die glaubten an ihren Erfolg.

Die griechische Gesellschaft ist bis heute eher konservativ. Dass Frauen als Internetunternehmerinnen erfolgreich sind, ist keine Selbstverständlichkeit. Aber auch Lela Dritsa hat es geschafft. Wie Zourou gründete sie ihre Firma auf dem Höhepunkt der Krise. Dritsa arbeitet in einer Festung aus Stahl und Beton, das Haus hat ein Energieunternehmen errichtet. Die Firma ist einer von Dritsas Investoren. Im Kellergeschoss hat sie ihre eigene Welt gebaut, mit wandfüllenden Fresken: Olivenbäume, Efeuranken, ein sommerlicher Wolkenhimmel.

Dritsa ist 37, sie trägt Jeans und T-Shirt. Als sie vor acht Jahren ihre Tochter bekam, fiel sie in eine Depression. "Ich wusste nicht, was mit mir geschieht, ich war völlig überfordert und habe niemanden gefunden, der mir hilft." Dritsa erzählt das so offen, weil sie will, dass es anderen jungen Frauen besser geht, und weil das Eingeständnis, Hilfe zu brauchen, fast so etwas wie ein Tabu war. 2014, da hatte sie schon ihr zweites Kind, gründete sie mit zwei anderen Frauen "Nannuka", eine Internetplattform, die Babysitter vermittelt, und auch Hilfen für ältere Menschen, nach vorheriger Prüfung der Qualifikation. Die ersten zwei Investoren sprangen gleich wieder ab, einer aus der Türkei, der andere aus den USA. Ihnen war die politische Unsicherheit in Griechenland zu groß.

Inzwischen arbeitet Nannuka mit dem Roten Kreuz zusammen, für eine Art Zertifizierung der Helfer, macht eigene Seminare. All das gab es in Griechenland vorher nicht. "Wir hatten diese Oma- und Opa-Kultur", sagt Dritsa, die Vorstellung, dass Kinderbetreuung Sache der Großeltern ist. "Aber meine Eltern arbeiten immer noch, wie soll das gehen?" Staatliche Kindergärten gibt es nur für Bedürftige, private sind teuer und schließen um 14 Uhr, sagt Dritsa.

Wegen der hohen Arbeitslosigkeit wollten sich viele Frauen rasch als Babysitter bei Nannuka registrieren, und es gab viele Eltern, welche die Preise drücken wollten. Dritsa musste viele ihrer Kunden erst mühsam überzeugen, "wie wichtig und wertvoll diese Arbeit ist, dass man jemanden braucht, der professionell ist". Und dass alle etwas zahlen müssen für die Webseite.

Auch Eleftheria Zourou hat eine Tochter, sie ist ein Jahr alt. "Sie heißt Clio, das ist in der griechischen Mythologie die Muse der Geschichtsschreibung." Zourou blickt zurück auf die Geschichte der letzten zehn Krisenjahre und sagt: "Die Mentalität in der Bürokratie hat sich noch nicht genug geändert." Sie erzählt von einer Behörde, die eine Million Euro für den Bau einer "simplen Webseite" ausgab. Junge Leute sollten im öffentlichen Dienst wichtige Stellen übernehmen, sagt Zourou, "solche Leute, wie hier für mich arbeiten". 70 Angestellte hat sie. "Ich frage nicht mal nach der akademischen Ausbildung", sagt die Chefin. Weil sie festgestellt hat, dass viele ihrer Altersgenossen akademisch überqualifiziert sind, "aber wenn es um die Praxis geht oder darum, Verantwortung zu übernehmen, wissen sie nicht, wie". Früher galt, jeder sollte studieren, Arzt oder Anwalt werden, "und dann möglichst reich". Aber die Krise hat alle sicheren Karriereerwartungen vernichtet.

Lela Dritsa hat mit Nannuka auch nach Italien und Großbritannien expandiert. "Als Start-up muss man am Anfang schnell wachsen, um die Firma auf eine richtige Größe zu bringen." Auch ihr Unternehmen ist profitabel. Jüngst hat sie noch einen Babysitter-Service für große Hotels geschaffen, auch der läuft sehr gut. "Athen boomt", sagt Dritsa. Zumindest für den Tourismus stimmt das. Im Athener Zentrum werden alte Gebäude, die lange leer standen, in feine Herbergen verwandelt. Aber ein Stück weg von den frisch verputzten Fassaden, an den Rändern des Zentrums, ändert sich das Bild. Es gibt Viertel, in denen die alte und die neue Armut nebeneinander wohnen. Billige Cafés wechseln sich ab mit Handyshops. Ganze Straßenzüge sind an Flüchtlinge vermietet, oft für viele Hundert Euro pro Zimmer. Dort warten Menschen auf eine Gelegenheit, aus Griechenland wegzukommen. Das Geschäft machen dubiose Vermittler.

Lela Dritsa arbeitet mit Flüchtlingshelfern zusammen, sie würde gerne mehr Migranten beschäftigen, wenn sie die Qualifikation haben. "Ich will etwas zurückgeben", sagt Dritsa. Eleftheria Zourou war 2011 in Uganda, als freiwillige Helferin in einem Dorfprojekt. "Das war eine intensive Erfahrung", sagt sie. Danach wollte sie nicht mehr für einen internationalen Kosmetikkonzern "noch mehr Mascara verkaufen, das ergab keinen Sinn mehr für mich". Die Krise, sagt sie, "muss kein Hindernis sein, Träume zu verwirklichen, wenn du an dich glaubst".

Lela Dritsa sagt, Griechenland befinde sich "in einer Übergangsperiode". Sie hofft, das Land werde bewahren, was es "einmalig" macht. Die Gastfreundschaft zum Beispiel. "Ich will, dass mir jemand ein Glas Wasser gibt, wenn ich auf eine Insel komme und durstig bin." Die offizielle Arbeitslosenquote in Griechenland beträgt 18 Prozent, das ist der niedrigste Wert seit 2011, aber noch der höchste in der EU. Zudem hat fast jeder Dritte nur einen Teilzeitjob, für durchschnittlich 384 Euro im Monat, wie die Zeitung Kathimerini berichtete. Vor Beginn der Krise im Jahr 2009 war Teilzeitarbeit in Griechenland fast unbekannt. Zahlt die heutige Generation für die Fehler der Vergangenheit? "Das macht doch jede Generation", sagt Lela Dritsa.

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SZ vom 21.05.2019/lalse
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