Flüchtlinge:Griechenland braucht Hilfe

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Flüchtlinge versuchen sich dem Wasserwall der Polizei an der türkisch-griechischen Grenze abzuwähren. (Foto: Bulent Lilic/AFP)

Die Griechen seien "Europas Schild", sagt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Aber das Land braucht vielfältige Unterstützung, um im Konflikt mit der Türkei bestehen zu können.

Kommentar von Tobias Zick

Recep Tayyip Erdoğan ist nachweislich ein Hitzkopf, aber das bedeutet keineswegs, dass er nicht in der Lage wäre, kühl zu taktieren. Der türkische Präsident weiß, was Autokraten von Weltrang heutzutage wissen: nämlich auf welche Stellen man zielen muss, um Gesellschaften des Westens zu spalten. Indem er Migranten zu Tausenden an die Grenze zu Griechenland karren lässt, um sie zum Überrennen der EU-Außengrenze zu treiben, fordert Erdoğan Europa in dessen Innerstem heraus. Gemeint ist jenes Wertegerüst, das heute so gerne angeführt wird, um zu definieren, was diesen Kontinent vom Rest der Welt unterscheidet.

Die Tränengasgranaten, die griechische Grenzer auf die vom türkischen Regime als Waffen missbrauchten Menschen schießen, sind ein Geschenk für den Propagandisten Erdoğan; die Bilder der Brutalität am Fluss Evros sind ihm ein Beleg dafür, dass es die Europäer, wenn es hart auf hart kommt, mit ihren Menschenrechten selber nicht so genau nehmen - und folglich anderen auch keine moralischen Lektionen zu erteilen haben.

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Die Türkei droht, sie werde weitere Flüchtlinge in Richtung EU schicken. Nach Angaben des Innenministers Soylu haben bereits 143 000 Menschen die Grenze zu Griechenland überwunden - doch die EU hat andere Zahlen.

Von Nico Fried, Joachim Käppner und Christiane Schlötzer, Istanbul

Die Griechen seien nun Europas "Schild", sagt die oberste Repräsentantin dieses alten Europas, Kommissionschefin Ursula von der Leyen, die zusammen mit Premier Kyriakos Mitsotakis einen Hubschrauberflug über das Krisengebiet an der Grenze unternommen hat - ohne mit ähnlicher Entschlossenheit darauf hinzuweisen, dass es hier um schutzbedürftige Menschen geht, die zwischen die Fronten geraten sind. Und dass die griechische Regierung Völkerrecht und europäisches Recht bricht, wenn sie zugleich für einen Monat alle Möglichkeiten aussetzt, einen Antrag auf Asyl zu stellen.

Zweifellos hat Griechenland wie jedes andere Land das Recht (und als EU-Mitglied auch die Pflicht), seine Grenzen zu kontrollieren und sich gegen Angriffe und Erpressungsversuche zu wehren. Es ist richtig, dass die europäischen Partner Athen darin unterstützen. Das zum Twitter-Hashtag gewordene Credo diverser Spitzenpolitiker, Griechenland beizustehen ("#Standwithgreece"), zeugt von einer innereuropäischen Solidarität, die das bis heute von Finanzkrise und Sparpolitik gebeutelte Land gut gebrauchen kann. Es wäre aber verheerend, wenn sich diese Solidarität auf die gemeinsame Aufrüstung an der Außengrenze der Europäischen Union beschränkte.

Die Regierung in Athen ist zunehmend verzweifelt. Premier Mitsotakis wird an diesem Montag in Berlin Bundeskanzlerin Angela Merkel um Hilfe bitten, zugleich versucht eine deutsch-griechische Konferenz in der Hauptstadt, mehr Investitionen nach Griechenland zu locken.

Auf Lesbos herrschen inzwischen bürgerkriegsähnliche Zustände: Vorletzte Woche bekriegten sich Inselbewohner und Polizei-Spezialeinheiten im Streit um Pläne der Athener Regierung, auf den Ägäis-Inseln neue Flüchtlingslager zu errichten. Viele Inselbewohner sympathisieren mit dem rechten Mob, darunter offenbar auch solche, die zuvor die bei ihnen gestrandeten, Schutz suchenden Menschen mit Decken und Lebensmitteln versorgt hatten. Ein berechtigtes kollektives Gefühl, überfordert und vom Rest Europas mit der Lage allein gelassen zu sein, ist in Wut und Hass umgeschlagen.

Die Lage auf Lesbos, wo heute etwa 19 000 Asylsuchende in und rund um ein für 2200 Menschen geschaffenes Lager vegetieren, ist eine direkte Folge der planlosen und unsolidarischen europäischen Migrations- und Asylpolitik. Seit die Europäer nach der Massenbewegung von 2015 beschlossen, die Balkanroute zu schließen, sitzen jene, die es noch aus der Türkei auf EU-Territorium schafften, in Griechenland fest. Die dortigen Behörden sind mit der Fülle an Verfahren überfordert. Genau darin braucht das Land nun die Solidarität der anderen Europäer.

Die EU-Staaten müssen dafür sorgen, dass an ihrer gemeinsamen Außengrenze schnellstens wieder Recht und Ordnung einkehren; konkret: Sie müssen sicherstellen, dass nicht Sicherheitskräfte mit Tränengas und Bürgerwehren mit Knüppeln darüber entscheiden, wer in Europa ein Recht auf Schutz hat, sondern Beamte mit rechtsstaatlichen Mitteln. Sie müssen gemeinsam die Kapazitäten so aufstocken, dass dies im Einzelfall schnell geschieht und nicht, wie bisher, mitunter Jahre dauert. Und sie müssen die schutzbedürftigen Menschen, die im Dreck der überfüllten griechischen Lager festsitzen, befreien und untereinander gerecht verteilen. Regierungen wie jene in Ungarn und Polen, die sich der Verantwortung verweigern, die mit den Vorzügen einer EU-Mitgliedschaft einhergehen, müssen den größtmöglichen Druck der anderen erfahren.

Sich nicht von den zynischen Erpressungsversuchen Erdoğans spalten lassen, sondern neben den gemeinsamen Grenzen auch die gemeinsamen Werte verteidigen: Nur wenn sie diese gewaltige Herausforderung bestehen, können die Europäer behaupten, aus den Ereignissen von 2015 wirklich etwas gelernt zu haben.

© SZ vom 09.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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