Süddeutsche Zeitung

Machtwechsel in Griechenland:"Es wird noch lange dauern, bis die Wunden verheilt sind"

Ökonom Jens Bastian war in der EU-Task-Force für Griechenland, als die ersten Rettungsgelder flossen. Ein Gespräch über Inszenierung, Resignation und Flucht.

Interview von Christiane Schlötzer

Jens Bastian, 59, ist ein deutscher Ökonom, der seit Langem in Griechenland lebt. Bastian war von 2011 bis Ende 2013 Mitglied der "Task Force for Greece", die während der Finanzkrise im Auftrag der Europäischen Union in Athen die griechische Bürokratie reformieren sollte. Heute arbeitet er als unabhängiger Berater und Finanzanalyst in Athen.

SZ: Alle Umfragen haben bereits seit Wochen einen Regierungswechsel in Griechenland vorausgesagt. Wie groß ist der finanzielle Spielraum einer neuen Regierung in Athen?

Jens Bastian: Eher eingeschränkt, und der Ausblick ist unsicher. Zunächst muss Kassensturz gemacht werden. Es gibt offene Fragen. Wie haben die verschiedenen Vorwahlgeschenke der Regierung von Alexis Tsipras - zum Beispiel eine 13. Rentenzahlung oder Neueinstellungen im öffentlichen Dienst - sich auf die Haushaltslage ausgewirkt? Gibt es Schattenhaushalte? Wie wird die finanzielle Schieflage des größten Stromproduzenten, der halbstaatlichen DEI, sich auf den Haushalt auswirken? Um Steuererleichterungen durchzusetzen, wie sie der konservative Herausforderer Kyriakos Mitsotakis versprochen hat, müsste der Haushaltsüberschuss reduziert werden, den Griechenland aufbringen muss.

Ist hier ein Entgegenkommen der EU denkbar?

Die Zielmarke von 3,5 Prozent Primärüberschuss ist bis 2022 festgelegt. Ein Entgegenkommen der europäischen Kreditgeber - der IWF ist ja nicht mehr dabei - ist durchaus möglich, falls die neue Regierung in anderen Politikfeldern selbst finanziellen Handlungsspielraum schafft, zum Beispiel bei den Privatisierungen, der Erweiterung der Steuerbasis und der Bekämpfung der Steuerflucht. Ich glaube, dass die Kommission und die Europäische Zentralbank einer neuen Regierung nicht sofort das Leben schwer machen wollen. Ihnen geht es vornehmlich darum, Ruhe aus Athen signalisiert zu bekommen.

Leidet Griechenland an einer "Überbesteuerung"?

Eindeutig ja. Die Steuerpolitik von Tsipras war aber die Fortsetzung der Steuerpolitik seiner Vorgänger. Es ist allerdings zu unterstreichen, dass diese Steuerpolitik von den Kreditgebern in den drei Rettungsprogrammen stets mitdefiniert wurde. Sie tragen eine Mitverantwortung, die viel zu selten zur Sprache kommt. Alle drei Programme sind primär Steuererhöhungsprogramme gewesen. Nach Beendigung des dritten Programms im August 2018 ist bisher keine Trendwende erkennbar. Heute ist das Grundproblem nicht mehr Steuerflucht wegen schwacher Steuerverwaltungen, sondern Bürger und Unternehmen werden durch die steigende Steuerbelastung geradezu gezwungen, aus der Not heraus Steuerflucht zu begehen. Dies betrifft besonders Selbständige, Geringverdiener und auch Erben.

Ist die Steuermoral tatsächlich besser geworden unter Tsipras? Hat die Regierung hier genug getan?

Die Steuerdisziplin ist erkennbar gestiegen, insbesondere bei der Immobiliensteuer. Ebenso sind die Steuerverwaltungen effektiver geworden, unabhängiger von Ministerien und besser ausgebildet, auch durch Schulungsprogramme in Kooperation mit deutschen Steuerbehörden. Gleichwohl steigen jeden Monat die Steuerschulden von Haushalten und Unternehmen. Sie haben mittlerweile ein Niveau von mehr als 100 Milliarden Euro erreicht. Umstritten bleibt die Bemessungsgrundlage für Steuerbefreiungen. Es gibt weiterhin viel zu viele legale Steuerbefreiungen, angefangen von den Reedern, der Orthodoxen Kirche, und auch von vielen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft.

Man sagt, Tsipras habe die "Reichen" genauso geschont, wie das seine Vorgänger taten, stimmt das? Mit den Reedern zum Beispiel gibt es seit Februar eine neue Vereinbarung für ihren freiwilligen Beitrag zum Haushalt, die fast günstiger aussieht als die Regelung davor.

Die Angelegenheit ist deshalb umstritten, weil sie eben auf Freiwilligkeit beruht. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Zahlungen eine wohltätige Gabe sind. Tsipras hat die Reeder verschont, er machte Urlaub auf der Luxusyacht eines Reeders. Aber diese vorsichtige Vorgehensweise war ebenso bei seinem früheren Finanzminister Yanis Varoufakis erkennbar. Von einer Partei, die sich "linksradikal" nennt, hatten viele Griechinnen und Griechen 2015 erwartet, dass sie "die Oligarchen" endlich zur Kasse bittet. In der öffentlichen Wahrnehmung ist eher der gegenteilige Eindruck entstanden, nämlich, dass es die Mittelschicht gewesen ist, die primär zur Kasse gebeten wurde. Auch wegen dieser Wahrnehmung wurde Tsipras an der Wahlurne abgestraft.

Ist Griechenland heute ein "normaleres Land" als in den letzten Krisenjahren?

Von einer Rückkehr zur Normalität kann noch keine Rede sein. Dafür sind die Einschnitte im öffentlichen Leben zu tief und nachhaltig. Lebensentwürfe sind für viele Mitglieder der Generation der heute Vierzigjährigen zusammengebrochen. Für viele junge Menschen bleibt weiterhin nur die Abstimmung mit den Füßen. Sie verlassen das Land oder kehren nicht zurück. Das ist ein klarer Hinweis darauf, dass diese junge Generation einen anderen Blick auf die inszenierte Erfolgsgeschichte hat. Eine Mischung aus eiskaltem Pragmatismus, Zynismus und Resignation kennzeichnet die Gemütslage vieler Familien. Die Einbrüche in der Wirtschaft und die Traumata in der Gesellschaft wirken nach. Es wird noch lange dauern, bis die Wunden verheilt sind. Das etablierte Parteiensystem ist weitgehend kollabiert. Das Verhältnis zu Deutschland noch belastet, wenn auch mit weniger aggressiver Rhetorik. Der Blick vieler Griechinnen und Griechen auf Europa ist nicht mehr so positiv besetzt wie vor Ausbruch der Krise 2009.

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SZ vom 08.07.2019/mkoh
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