Süddeutsche Zeitung

Griechenland:Eine Krise, die krank macht

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Die Kliniken arbeiten inzwischen im Notfallmodus: In Athen kommen viel mehr Patienten als sonst zur Behandlung, doch es fehlt an allem.

Von Stefan Braun, Hans von der Hagen und Mike Szymanski

Im Flur ist kein Weiterkommen. So viele Kranke. Ein alter Mann schläft. Die Patientin daneben, mit einem Laken gerade so bedeckt, bekommt eine neue Infusion. Eine Frau im Rollstuhl will durch, muss aber warten wie alle anderen auch. Der Flur im Erdgeschoss des Evangelismos, des größten staatlichen Krankenhauses von Athen, ist in der Not zum Behandlungszimmer geworden. Schamgefühle muss man hier als Patient ablegen.

Theofanis Apostolou, Nierenspezialist und seit 1997 im Evangelismos, wirkt trotzdem so, als habe er die Ruhe weg. Er balanciert einen Kaffeebecher in der einen Hand und einen Koulouri, einen Sesamkringel, in der anderen. Kurze Pause auf dem Gang. "Noch funktioniert alles, irgendwie. Wir kommen zurecht", sagt Apostolou. Er will für seine Patienten alles in seiner Macht Stehende tun. Aber es steht nun einmal nicht in seiner Macht, sicherzustellen, dass genug Verbandsmaterial da ist, ausreichend Medikamente, ja überhaupt genügend Mediziner. Wie lange Verbände und Medikamente reichen, das weiß er nicht zu sagen. Zwei Krankenschwestern sagen: "Wir haben jetzt schon Probleme."

Griechenland steht finanziell vor dem Kollaps. Das hat starke Auswirkungen auf einen so empfindlichen Organismus wie dieses Krankenhaus mit fast 1000 Betten. Im vierten Stock liegt Ibrahim Barraj. Eine böse Darminfektion hat ihn vor zehn Tagen niedergestreckt. Jetzt weiß er, was es bedeutet, wenn ein Krankenhaus im Notfallmodus läuft: Die Infusionsnadel an seiner Hand ist nur mit zwei dünnen Klebestreifen befestigt. Er wollte einen richtigen Verband, aber die Schwester sagte: Er müsse verstehen, die anderen bräuchten doch auch etwas. Seine Schmerz- und Blutdruckmittel hat er sich von zu Hause mitbringen lassen, die hätten sie hier nicht gehabt. "Das ist alles so traurig", sagt er. "Die Leute leiden." Auf das Personal lässt er nichts kommen, Schwestern wie Ärzte würden "den Umständen entsprechend" einen guten Job machen.

Doktor Theofanis Apostolou sagt, die Krise, die ja schon so lange andauert, mache alle krank. 20 bis 30 Prozent mehr Patienten hätten sie mittlerweile. Seit fünf Jahren ringt man mit immer neuen Sparmaßnahmen. Von den Wänden blättert die Farbe. Sechs Kranke teilen sich ein Zimmer. Den Ärzten bleibt kaum Zeit, um sich zwischen den Schichten zu erholen. Was wird passieren, wenn dem Staat bald ganz das Geld ausgeht? Auch hier im Krankenhaus stehen die Ärzte vor dem Geldautomaten Schlange, um sich das Tageslimit von derzeit 60 Euro zu sichern. "Alle sind gestresst", sagt die Ärztin Rodanthi Theodorelou. Die Ärzte - und die Patienten.

Dimitros Kontopidis braucht ein Ja beim Referendum - er könnte sonst bald sterben

Patienten wie Dimitros Kontopidis. Als er hörte, dass es ein Referendum geben würde, wusste er sofort, dass die Geschichte schlimm für ihn enden könnte. Noch in der Nacht schickte er die Verwandten zum Bankautomaten, zur Tankstelle und am Morgen dann zur Apotheke. Denn Medikamente sind wichtig für ihn, sie bestimmen seinen Alltag - und über sein Leben. Wenn beim Referendum die Mehrheit der Leute mit Nein stimmt, so fürchtet er, drohe ihm womöglich schon in wenigen Jahren der Tod. Kontopidis ist unheilbar krank. Der Athener hat Mukoviszidose, eine tückische Stoffwechselkrankheit, die Körpersekrete zähflüssig werden lässt.

Kontopidis braucht ein Ja im Referendum - genauso wie die übrigen rund 700 Mukoviszidose-Patienten in Griechenland. Nur dann, sagt er, werde das Land die Behandlung dieser Krankheit noch bezahlen können. Es fängt schon bei den Medikamenten an: Wer soll die 3000 bis 5000 Euro im Monat aufbringen, wenn die Drachme zurückkommt und im Verhältnis zum Euro plötzlich nur noch ein Drittel ihres Wertes hat, wie Ökonomen vorrechnen? Die Arzneien müssen importiert werden. Bisher übernimmt die Kosten dafür der Staat. Allein die Medikamente helfen jedoch noch nicht, das Leben deutlich zu verlängern. Erst speziell ausgebildete Ärzte und Krankenhäuser in Kombination mit den Medikamenten können viel erreichen. Kontopidis hat Zahlen parat: Obwohl in der gesamten EU die gleichen Medikamente vorlägen, hätten in Großbritannien Patienten eine Lebenserwartung von im Schnitt 43 Jahren, in Griechenland dagegen sind es inoffiziellen Daten zufolge nur 30 Jahre. Ein Grund ist: In Großbritannien kümmern sich ganze Ärzteteams um einen Patienten, in Griechenland nur ein Arzt.

Die Finanzamtschefin macht ein Selfie vom Einzigen, der noch Steuern zahlen will

Kontopidis ist jetzt 30 Jahre alt. Die Krankheit befällt mehrere Organe, besonders bemerkbar macht sie sich allerdings in der Lunge, wo sich die zähflüssigen Sekrete Tag für Tag sammeln, die zu schweren Infektionen führen und die Atemwege zerstören. Kontopidis hat noch 30 Prozent seiner Lungenfunktion. Diese Zahl ist bei Mukoviszidose das Lebensbarometer: Sie gibt an, wie viel Zeit noch bleibt.

In Athen hoffen Rentner vor den Banken auf Geld.

Eine Nummer ziehen und warten - es sind lange Stunden in der Hitze.

Ein älterer Herr zählt seine Münzen.

1000 Filialen sind für jene geöffnet, die keine Karte für den Automaten haben.

120 Euro - das bekommen Rentner in dieser Woche von ihren Banken.

Eine Wasserflasche macht das Warten etwas erträglicher.

Als ein Freund von ihm bereits mit 17 Jahren starb, wurde er stutzig. Wie konnte es sein, dass in Großbritannien die Patienten so viel älter werden? Wie kamen die Unterschiede zustande? Das war vor etwa vier Jahren. Kontopidis wollte ursprünglich Architekt werden, doch er gab sein Studium auf und widmete sich fortan ganz der Krankheit. Er begann, bei der Gesellschaft für Zystische Fibrose mitzuarbeiten, deren Präsident er mittlerweile ist. Geld bekommt er dafür nicht, sondern lebt von den 300 Euro, die ihm der Staat zahlt. Mit seiner Organisation, die es seit 1983 gibt, hat er zuletzt einiges erreicht: Mittlerweile können Patienten aus Griechenland ihre Lunge in Österreich transplantieren lassen. Weitere Kooperationen gibt es mit Großbritannien. Alles das zahlt die EU - genauso wie die Nachsorge.

In Europa zu sein heißt für Kontopidis: ein paar Jahre länger leben zu können. Und das, was in den vergangenen vier Jahren auch für die anderen Patienten erreicht wurde, zu erhalten. Dass Verständnis in Brüssel da ist, zeigt sich in den Sparzielen, die die EU Griechenland für die Fortsetzung des Rettungspakets vorgibt: Das Budget für Schwerkranke blieb unangetastet. Muss aber Griechenland die EU verlassen, war alles umsonst. Am Sonntag wird es für alle Griechen darum gehen, wie viel Luft ihnen künftig zum Atmen bleibt. Für die meisten im übertragenen Sinn, für Kontopidis im wörtlichen.

In Berlin studieren sie natürlich die Berichte über die immer schlechter werdende soziale Lage, gerade bei den Älteren und Ärmeren in Griechenland. Berichte aber, wonach es schon konkrete Pläne gebe, wie man den Notleidenden im EU-Partnerland helfen könne, werden derzeit noch heftig dementiert. Das hängt zum einen damit zusammen, dass man zwar durchaus Überlegungen angestellt hat, was man in der Not tun könnte. Zugleich aber wird in der Bundesregierung quasi minütlich beobachtet, ob und, wenn ja, wie sich die Stimmung in der griechischen Bevölkerung auf dem Weg zum Referendum ändern könnte.

Hinzu kommt, auch das ist in Berliner Regierungskreisen zu hören, dass eine groß angelegte EU-Hilfsaktion für Griechenland bei ziemlich vielen Mitgliedsstaaten heftige Widerstände auslösen könnte. Der Grund: In nicht wenigen EU-Ländern in Osteuropa geht es den Rentnern und ärmeren Schichten noch schlechter als jenen in Griechenland. Insbesondere in den baltischen Staaten, aber auch in der Slowakei, Rumänien und Bulgarien haben Diplomaten solche Stimmungen ausgemacht. Allerdings wächst die Kritik auch in großen EU-Ländern wie Italien. Als Roms Ministerpräsident Matteo Renzi am Mittwochabend in Berlin auftrat, erklärte er recht brüsk, dass es an der Zeit wäre, nicht mehr immer nur über die Probleme einer Gesellschaft zu reden. Auch in den anderen 27 EU-Staaten gebe es Probleme. Eine deutliche Botschaft.

Athen übersteht die Tage währenddessen im Krisenmodus: Vor der Piraeus Bank am Syntagma-Platz steht ein Geldautomaten-Einweiser, der dafür sorgt, dass sich niemand in der Schlange vor den beiden Maschinen vordrängelt. Im Stadtzentrum taucht immer Polizei auf. Touristen in Flipflops und kurzen Hosen müssen an Polizisten in Kampfmontur vorbei. Die Geschäftsinhaber haben viel Zeit, Rabattschilder aufzustellen. Kunden kommen kaum. Busse und Bahnen fahren - kostenlos sogar. Seitdem die Banken geschlossen sind, zahlt offenbar so gut wie niemand mehr seine Steuern. Die Chefin eines lokalen Finanzamtes soll ein Selfie von sich und dem einzigen Bürger gemacht haben, der am vergangenen Montag noch seine Abgaben entrichten wollte.

Im Parlament ist jetzt auch erst einmal Pause. Das nächste Mal kommen die Abgeordneten am 7. Juli zusammen. Am Dienstag nach der Abstimmung. Oppositionspolitiker hätten das Referendum am liebsten noch gestoppt. Das geht nun nicht mehr so einfach. Syriza-Politikerin Konstantopoulou freut sich auf die Volksabstimmung. Ein "Nein" werde "künftige Generationen" stolz machen, ließ sie mitteilen.

Die Machtspiele funktionieren in Athen bis zur letzten Minute.

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SZ vom 03.07.2015
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