Süddeutsche Zeitung

Griechenland:Der Professor im Augiasstall

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Seit mehr als zwanzig Jahren versucht Athen, ein Grundstückskataster aufzubauen, bisher mit mäßigem Erfolg. Eine neue Behörde will nun wirklich aufräumen.

Von Luisa Seeling, Athen

Die Sache ist kompliziert, aber der Professor kennt einen Trick. Er kritzelt Pfeile und Diagramme so in sein Notizbuch, dass sein Gegenüber mitlesen kann: auf dem Kopf und von rechts nach links. Der Professor beherrscht dieses Überkopfkritzeln gut, er verschreibt sich nur ein einziges Mal und korrigiert sich sofort. Byron Nakos ist eben sehr, sehr exakt - was in seinem Job durchaus von Vorteil ist.

Nakos, 62, grauer Bart, dezente Brille, nimmt es auch deshalb so genau, weil die ganze griechische Kataster-Sage aus seiner Sicht eine Geschichte voller Missverständnisse ist. Zumindest lässt sie sich auf zwei verschiedene Arten erzählen, die eine der beiden Versionen ist allerdings nicht sehr schmeichelhaft für die Griechen. Sie geht so: Griechenland, letzter EU-Staat ohne nationales Kataster, bastelt seit 23 Jahren an einem zusammenhängenden Liegenschafts-Register herum, ohne je fertig zu werden. Und das, obwohl die EU Millionen von Euro in das Projekt gepumpt hat.

Nicht nur Byron Nakos ist optimistisch, auch die EU lobt die Fortschritte der Griechen

Nakos erzählt die Geschichte naturgemäß ein bisschen anders. Der freundliche, stets sachliche Mann ist Kartografie-Professor an der Nationalen Technischen Universität von Athen, hat aber seit 2015 einen zweiten, deutlich aufwendigeren Job: Er leitet die Nationale Kataster- und Kartografie-Agentur, die den Aufbau des landesweiten Katasters vorantreiben soll. Die Agentur, bisher ein Staatsunternehmen, wird nun in eine Behörde umgewandelt. Es hakt an vielen Stellen, aber Nakos bleibt optimistisch: Für ihn geht das Projekt mit Riesenschritten der Vollendung entgegen, 2020 soll es soweit sein. "Na ja", schiebt er nach, "einige Dinge könnten sich bis 2021 ziehen. Aber glauben Sie mir, es wird fertig."

Ein landesweites Kataster, das ist weltweit die Grundlage für Rechtssicherheit, für sichere Investitionen, für wirkungsvollen Umweltschutz. Ohne Liegenschaftsregister haben Willkür und Korruption in jedem Land der Welt leichtes Spiel. In Nakos' Büro im Nordosten Athens hängt eine einzige Karte, angesichts ihrer Bedeutung ein eher mickriges Exemplar, in Plastik laminiert. Es ist ein vergrößerter Auszug aus der sogenannten Basiskarte, der ersten, die Griechenland je hatte. Sie ist Grundlage für die Vermessung der etwa 132 000 Quadratkilometer Landfläche, und ihre Einteilung in Parzellen. Ist erst einmal alles vermessen, können die Bürger ihren Besitz amtlich registrieren lassen. Sie müssen das, ein Gesetz schreibt es vor. So entsteht eine riesige digitale Datenbank, die Auskunft darüber gibt, wem was gehört in Griechenland - und wie groß das jeweilige Grundstück ist. "Wie ein Puzzle, das wir zusammenfügen", sagt Nakos.

Doch bisher hat das Projekt nur für negative Schlagzeilen gesorgt. Manche im Land vergleichen das Kataster-Projekt mit dem Berliner Großflughafen BER - eine öffentliche Peinlichkeit, die viel Geld kostet. In griechischen Zeitungen war von einer "nationalen Schande" zu lesen. Nun aber ist - buchstäblich - Land in Sicht. Nicht nur Nakos ist optimistisch, auch die internationalen Kreditgeber loben die Griechen. "Die klemmen sich jetzt wirklich dahinter", sagt ein hochrangiger Beamter der EU-Kommission in Athen. Als Anfang 2018 Vertreter des EU-Parlaments eine "Kontrollreise" unternahmen, um sich anzusehen, wofür Athen europäische Steuergelder ausgibt, fiel auch ihr Fazit positiv aus: Der Aufbau des Katasters schreite voran.

Der Begriff Kataster kommt aus dem Griechischen, ausgerechnet: Katastikhon, das Register. Ein Liegenschaftsregister, wie es in anderen europäischen Ländern schon viel früher entstand, gab es in Griechenland bisher nicht. Einzige Ausnahme: Die Dodekanes-Inseln, wo während der Herrschaft der Italiener von 1912 bis 1943 ein Katasterwesen entstand. Ansonsten gab das griechische System nur Auskunft darüber, welche Hypotheken auf einem Grundstück eingetragen waren und auf wen. Was fehlte, war eine zusammenhängende Liegenschaftskarte, die geografische Informationen mit Angaben über die Besitzverhältnisse verband. Die Folge: ein einziges Durcheinander.

Die Aufgabe, die sich dem Professor stellt, ähnelt der eines Herkules - er soll einen sprichwörtlichen Augiasstall ausmisten. Da gab es Erben, die ihr Grundstück anhand von Beschreibungen wie "vom Bach bis zum dritten Olivenbaum rechts" oder "das Feld neben dem von Frau Katsioulis" ausfindig machen mussten. Dumm nur, wenn Frau Katsioulis verstorben war. Oder wenn sich herausstellte, dass auch andere Dorfbewohner Anspruch auf den Acker erhoben. Dass Grundstücke per Handschlag den Besitzer wechselten, war Alltag - weil die Menschen einander mehr vertrauten als dem Staat und um Gebühren zu sparen. Und wenn es Dokumente gab, fehlte meist eine Karte, und wenn es die doch gab, war sie oft genug fehlerhaft. Digital lagen die vorhandenen Dokumente auch nicht vor. In den Krisenjahren nach 2009 erlangten die für Landfragen zuständigen 400 Grundschuldbüros traurige Bekanntheit; Regale, in denen sich zerbröselnde Akten stapelten, wurden zum Sinnbild für alles, was faul war im Staate Griechenland. Vor allem bei den ordnungsliebenden Deutschen war die Häme groß. Das sei "Populismus" gewesen, sagt Nakos. Natürlich habe die Kritik einen wahren Kern gehabt, räumt er ein, "es gibt Chaos bei uns - aber das ist doch nicht die Regel!"

Die Arbeit am Kataster begann 1995, es gab Pilotprojekte, Testvermessungen. Die EU förderte das Vorhaben mit mehr als 150 Millionen Euro. Doch die Anfangsphase wurde zum Fiasko. Fristen verstrichen, ohne dass Athen Ergebnisse vorzeigen konnte. Am Ende musste die Griechen 100 Millionen zurückzahlen. Er wolle nichts beschönigen, beteuert Nakos, der damals noch nicht beteiligt war, aber man müsse fair bleiben: "Wir haben bei null angefangen. Wir wussten nichts! Das war alles neu für uns."

Die Agentur hatte mit fehlendem Knowhow zu kämpfen, der ausufernden Bürokratie - und mit mächtigen Widerständen. Nicht jeder war glücklich über die Aussicht, ein Kataster zu bekommen. Ein Heer von Anwälten und Notaren verdiente gut am Durcheinander in Fragen des Landbesitzes. Wer Steuern hinterzog, legte keinen Wert auf klare Verhältnisse. Politiker legalisierten illegale Rodungen und Schwarzbauten, um ihre Klientel bei Laune zu halten.

Jetzt aber, betont Nakos, geht es voran. Bisher sind acht Prozent der Landesfläche erfasst. Das klingt wenig beeindruckend. Es sei aber unfair, den Fortschritt allein in Fläche zu messen, sagt der Professor. Erfasst seien bereits große Teile der urbanen Zentren; damit decke man wenig Fläche, aber viele Besitztitel ab. Außerhalb der Städte werde es einfacher, dort sei Land billiger und weniger umstritten. Von geschätzt knapp 40 Millionen Besitztiteln sind bis heute schon mehr als 11,5 Millionen registriert, das sind etwa 29 Prozent.

Eine Abfolge zahlloser Katastrophen oder einfach eine Art von Entwicklungsroman

Ein weiterer Grund für Nakos' Zuversicht: Jahrelang blockierten Gerichtsverfahren die Arbeit am Kataster. Bürger verklagten einander, weil sie dasselbe Grundstück beanspruchten, es gab Ärger mit Firmen, die im Auftrag der Agentur die Landvermessung durchführten; um die Projektvergabe wurde gestritten, es ging um Millionen. Inzwischen sind fast alle Projektverträge vergeben, der Endspurt beginnt. Mehr als eine Milliarde Euro sind für das Kataster-Projekt veranschlagt worden. Im Prinzip soll es sich selbst tragen; 35 Euro kostet die Registrierung eines Besitztitels, bei 132 000 Quadratkilometern zu registrierender Fläche kommt also einiges zusammen. Zudem hilft die EU. Sie hat schon mehrere Hundert Millionen investiert, für die letzte Phase sind weitere 80 Millionen veranschlagt. "Aber nur als Puffer", versichert Nakos, falls sich doch Finanzierungslücken auftun.

Nakos wird die Behörde, die "Hellenisches Kataster" heißen soll, nur übergangsweise leiten. Vor ihm liegen noch wichtige Aufgaben: Vom Stempel, der entworfen werden muss, bis zur Eingliederung der 400 Grundschuldbüros. Wenn es nach Plan läuft, wird das Kataster 700 Mitarbeiter haben, alle Besitztitel werden in der Datenbank abrufbar sein. Die Behörde wird knapp 100 Zweigstellen im Land haben, deutlich weniger als die bisher 400 Grundschuldbüros. Eines Tage, hofft Nakos, können die Bürger dann alle Liegenschaftsfragen zu Hause erledigen, am PC. Aber das ist Zukunftsmusik. Zunächst gilt es, die 2020-Frist einzuhalten. Gerade hat Nakos einen Rückschlag eingesteckt: Die erste Grundbuchfassung für Athen sollte im April vorgestellt werden, nun wird es September. Aber die Kataster-Saga kann man eben so oder so erzählen - als Abfolge von Katastrophen oder als Entwicklungsroman. Nakos findet, 23 Jahre seien keine lange Zeit, wenn man bei null anfängt. "Wie lange", fragt er, "hat Frankreich gebraucht, um sein Kataster-System aufzubauen?" Die Antwort gibt er selbst: "Das waren mindestens 200 Jahre."

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Quelle:
SZ vom 03.04.2018
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