Süddeutsche Zeitung

Grenzkontrollen in der EU:Wie das Schengener Abkommen zerfranst

  • Kritiker wähnen das Schengen-System - die Möglichkeit, unbehelligt, durch fast ganz Europa zu reisen - am Ende.
  • Doch soweit ist es noch nicht. Grenzkontrollen, wie sie zurzeit geschehen, sind in dem System zeitlich begrenzt erlaubt.
  • Darf Deutschland nun alle Migranten pauschal abweisen? Nein, das Land bleibe offen für Flüchtlinge, betont ein Regierungssprecher.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Was bleibt den Bürgern von den Vorteilen der Europäischen Union, wenn die gemeinsame Währung seit Jahren kriselt und sie nun wieder ihre Pässe an der Grenze zeigen müssen? Die Antwort liegt auf der Hand: nicht so viel. Das erklärt die Verunsicherung unter Europas Politikern und Denkern.

Sie preisen das Schengen-System - die Möglichkeit, unbehelligt durch fast den ganzen Kontinent zu reisen - umso lauter, je mehr es in Gefahr gerät. "Die Bewegungsfreiheit, die Schengen garantiert, ist ein einzigartiges Symbol der europäischen Integration", sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vorige Woche in seiner Rede zur Lage der Union. "Schengen ist die Essenz der EU", meint Camino Mortera vom Centre for European Reform in Brüssel. Aber wie lange noch?

Der Schengen-Raum ist keine kontrollfreie Zone

Es waren Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten, die das Abkommen 1985 im luxemburgischen Ort Schengen unterzeichneten. Zehn Jahre später wurden die Personenkontrollen an den Binnengrenzen abgeschafft, als Parallele zum Binnenmarkt. Wenn Waren frei zirkulieren sollten, so die Idee, müssten auch die Menschen frei reisen können. Vereinbart wurde gleichzeitig, die Außengrenzen stärker zu bewachen.

Inzwischen machen 22 der 28 EU-Staaten mit (nicht dabei sind Großbritannien und Irland; Zypern, Kroatien, Bulgarien und Rumänien wenden Teile des Kodex an), und auch Norwegen, die Schweiz, Liechtenstein und Island sind Teil des Schengen-Raums geworden.

Dieser Raum ist keine kontrollfreie Zone. Der Grenzkodex erlaubt Schleierfahndung, also Stichproben und Kontrollen zur Bekämpfung grenzüberschreitender Kriminalität, solange sie nicht Grenzkontrollen gleichkommen. Auch Letztere sind vorübergehend erlaubt. Zum einen bei "vorhersehbaren Ereignissen" wie großen Sportveranstaltungen oder Gipfeltreffen.

Deutschland bezog sich darauf bei der Fußball-WM 2006 und zuletzt beim G-7-Gipfel in Bayern. Die maximale Dauer von Grenzkontrollen beträgt sechs Monate. Zum anderen bei "unvorhersehbaren Ereignissen", die die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit gefährden.

Das führte die Bundesregierung als Grund an, als sie die Kommission am Sonntagabend informierte. Die Brüsseler Behörde hält das für "valide". Migration sei zwar eigentlich nicht unvorhersehbar, hieß es, aber die Zahl der ankommenden Flüchtlinge spreche doch für sich. Erlaubt sind solche Grenzkontrollen für zunächst zehn Tage, die auf insgesamt zwei Monate verlängert werden können.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sprach am Montag von "Wochen", die es dauern werde. Falls sich die Lage nicht beruhigt, wäre theoretisch denkbar, dass die EU eine bis zu zwei Jahre lange Ausnahme genehmigt, wie sie 2013 eingeführt wurde, nachdem sich Frankreich und Italien wegen des Flüchtlingsstroms aus Nordafrika im Jahr 2011 gestritten hatten. Das aber soll nur ein allerletztes Mittel sein und müsste dann von allen EU-Ländern gemeinsam beschlossen werden.

Die deutsche Notbremse löste am Montag den von vielen befürchteten Dominoeffekt aus. Zuerst kündigte Österreich Kontrollen an seiner Grenze zu Ungarn an. Die Slowakei will zusätzlich auch Richtung Österreich kontrollieren, genauso Tschechien. Polen erwägt Ähnliches. Am Nachmittag folgten die Niederlande. Italien hatte zuvor schon angekündigt, am Brenner wieder kontrollieren zu wollen. In dieselbe Richtung zielte der dänische Schritt vergangene Woche, Flüchtlinge an der Weiterreise nach Schweden zu hindern. Das Schengener Abkommen zerfranst von vielen Seiten zugleich.

Wer nirgendwo registriert ist, wird weiterhin als Flüchtling aufgenommen

Die deutsche Bundespolizei kontrolliert nur zu Land, Flugzeuge sind nicht betroffen. Darf sie nun etwa alle Flüchtlinge pauschal abweisen? Nein, Deutschland bleibe offen für Flüchtlinge, betonte ein Regierungssprecher in Berlin. Die Dublin-Grundregeln gälten weiter, hieß es auch in der EU-Kommission. Registrierte Migranten dürften in das Land zurückgeschickt werden, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben.

Sollte es ein Syrer ohne Registrierung bis an die deutsche Grenze geschafft haben, muss Deutschland ihn registrieren und letztlich aufnehmen. Migranten, die keine Aussicht auf Asyl haben, dürfen abgeschoben werden. Und EU-Bürger, die an der Grenze ohne Pass aufgehalten werden? Sie müssten sich eben irgendwie anders ausweisen, verlautete aus Kommissionskreisen.

Die Grenzkontrollen sollen potenzielle weitere Migranten abschrecken. Aber sie werden die Flüchtlinge nicht stoppen. Die Kontrollen sind daher wohl vor allem als politisches Signal der Bundesregierung an die europäischen Partner gemeint, endlich mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Zu erwarten ist, dass noch weitere Grenzen geschlossen werden und dass sich die politischen Fronten verhärten in den kommenden Wochen. Der deutsche Schritt führe zu "unhaltbaren Bedingungen" in anderen Staaten des Schengen-Raums, schimpfte etwa die tschechische Zeitung Lidové noviny, Berlin spiele ein "schmutziges Spiel".

Für EU-Gegner sind dies Tage des Triumphs. Nun fühlen sich alle bestätigt, die vor offenen Grenzen warnten, auch weil sie Einfallstor für Waffen und Terroristen seien. "Das wird Schengen wohl nicht überleben", twitterte der Brite Nigel Farage. Die Französin Marine Le Pen höhnte: "Bye-bye, Schengen".

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SZ vom 15.09.2015/fued
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