Jetzt, da die Stimmung gegenüber den Flüchtlingen umschlägt, erscheint es verwegen, sich noch einmal jener Idee anzunehmen, die in den "märchenhaften" Willkommenstagen des September viele Herzen bewegte: der Idee offener Grenzen. Kurz war ihre Blüte. Inzwischen gilt sie wieder als abwegig, weltfremd, unseriös.
Selbst der Philosoph Slavoj Žižek beschimpft die "sentimentalen Linken", die Europa "bedrohen" mit ihrem "heuchlerischen" Plädoyer für offene Grenzen. "Diese Linksliberalen wissen genau, dass ihre Forderung nicht durchsetzbar ist."
Die Heftigkeit der Schelte zeigt, wie furchterregend die Vorstellung freien Zutritts sein kann. Und es hat den Schrecken nur verstärkt, dass die Kanzlerin selbst von offenen Grenzen sprach.
Allerdings schob sie in einer Talkshow bald eine Formulierung nach, die das politische und emotionale Dilemma offenbart: "Wir haben eine Politik der offenen Grenzen", sagte sie: "Aber auch eine Situation, in der unsere Außengrenzen nicht wirklich geschützt sind." Offene Grenzen, die nicht geschlossen genug sind - in diesem Paradox dürften viele ihr zerrissenes Gemüt wiedererkennen.
Aber auch die Engagiertesten werden Žižeks Feststellung nicht widersprechen, dass die Forderung nach offenen Grenzen "nicht durchsetzbar ist". Erledigt sich das Thema also? In der Tat macht Europas Rückkehr zur nationalen Abschottung die Idee auf absehbare Zeit zum Phantasma.
Trotzdem müsste man blind sein, würde man sich nicht angesichts der so konfliktreich zusammenrückenden Weltgesellschaft eingestehen, dass früher oder später jede politische Zukunftsgestaltung mit dem Gedanken konfrontiert wird. Es geht um Folgerichtigkeit, nicht Traumtänzerei. Bevor der Verdacht politischer Einfalt aufkommt, eines vorab: Grenzen zu öffnen bedeutet nicht, den Nationalstaat abzuschaffen.
Ohnehin bedeutet es nicht, dass ein Staat mehr Flüchtlinge aufzunehmen hätte, als er mit seiner Infrastruktur verkraften kann. Nach wie vor gilt der ehrwürdige Moralgrundsatz "ultra posse nemo obligatur", über seine Fähigkeiten hinaus ist niemand verpflichtet. Auseinanderzuhalten sind daher Zeiten mit durchschnittlichen Migrationsbewegungen und solche dramatischen Phasen, in denen riesige Flüchtlingsmengen Notstände verursachen.
Warum überwinden Finanzströme die Hindernisse - nicht aber Menschen?
Was also spricht, jenseits des Notstands, für offene Grenzen? Seit den Achtzigerjahren wird die Idee in drei Versionen diskutiert und propagiert, in einer radikalen, einer wirtschaftlichen und einer ethisch-politischen Version. Die radikale Auffassung, um mit ihr zu beginnen, verlangt schlicht, die Grenzen vollständig aufzuheben.
Die Gründe: Migration sei nie zu verhindern, egal welche Zäune und Mauern man errichtet. Mit dem Wegfall der Kontrolle müsste keiner mehr die Flucht mit dem Leben bezahlen. Zugleich entfalle das kriminelle Schlepperunwesen und auch jede inländische Grauzone der Illegalität. Die befürchtete Masseninvasion sei eine Einbildung - historische Beispiele (Wegfall der deutschen Mauer, Öffnung der Grenze zwischen Indien und Nepal, europäische Freizügigkeit) zeigten, dass nach einem erstem Ansturm der Strom abebbt. Offene Grenzen erlaubten Migranten, problemlos zwischen Zielland und Heimatland zu reisen, sie müssten sich also nicht mehr an das einmal erreichte Zielland klammern. Und natürlich werden hier auch humanitäre Gründe angeführt, dazu gleich.
Als der Politologe François Gemenne diese Position vor Kurzem auf dem "Open Border Kongress" in München vortrug, erhob sich kein Einspruch. Die Suggestion, den gordischen Knoten des Flüchtlingsdramas zu durchschlagen, ist stark. Doch außerhalb solcher Inseln der Zustimmung lassen sich Skepsis und Abwehr nicht abwimmeln. Es ist wie mit der Drogenpolitik: Hebt man das Verbot auf, entfällt alle Drogenkriminalität, aber entfällt damit auch das Drogen- und Suchtproblem? Entfielen mit den Grenzen zugleich die Probleme der Integration? Das Fluchtgefälle zwischen reichen und armen Ländern? Die Kämpfe um Anerkennung und Identität?
Auch die zweite, die wirtschaftliche Version baut auf einer Suggestionsfrage auf: Warum können Produktionsstätten, Finanzströme und Märkte alle Grenzen überwinden, nur Menschen und Arbeitskräfte nicht? Für die Wohlstandsmehrung seien Grenzen eingerissen worden, beklagt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, die aber prompt neu entstünden, wenn es um die Verteilung dieses Wohlstands gehe. Sieht man auch hier vorerst vom ethischen Aspekt ab, missachtet diese Kritik allerdings das Kalkül der globalisierten Ökonomie: Für sie ist die Mobilität der Arbeitskräfte zweitrangig, solange Arbeitsplätze und Waren mobil genug sind.
Zwar gibt es gesamtwirtschaftliche Rechnungen, die belegen, dass Migranten in ihrem Zielland meist erheblich mehr zum Wohlstand und Steueraufkommen beitragen, als sie an Kosten verursachen. Nur folgt daraus nicht, dass die Grenzen zu öffnen sind. Nach der instrumentellen wirtschaftlichen Logik sind nur solche Migranten an der Grenze durchzuwinken, die Lücken auf dem Arbeitsmarkt füllen - nicht eben die Auswahl, die Kriege und Armutsregionen in die Flucht treiben.
Die härteste Nuss enthält die ethische Version. Dass man sich über ihren Gehalt streitet, wundert nicht. Am unnachgiebigsten argumentieren jene, die allein auf die Universalität der fundamentalen Moral- und Rechtsgrundsätze pochen. Exemplarisch ist die berühmte Abhandlung von Joseph H. Carens aus dem Jahr 1987 unter dem Titel "Aliens and Citizens: The Case for Open Borders", auf die sich heute viele beziehen: Ethisch gesehen, gebe es keinen Unterschied zwischen "Fremden" und "Bürgern". Das Bürgerschaftsrecht, das man in westlichen Demokratien mit der Geburt erwerbe, sei das moderne Äquivalent zum feudalen Geburtsprivileg - und ebenso wenig zu rechtfertigen.
Dass Republiken, Demokratien, Nationen in dieser Doktrin kein Eigenrecht haben und nur illegitime Hindernisse der weltweiten Freizügigkeit bilden, verleiht dieser Doktrin den Charakter eines demokratiefeindlichen Kahlschlags. Diesen Mangel vermeiden ihre schärfsten Kritiker, die Kommunitaristen wie Martha Nussbaum oder Michael Walzer, schütten dabei aber das Kind mit dem Bade aus.
Nach ihrer Ansicht sind auch die elementaren Menschenrechte an etablierte Gemeinschaften gebunden und gelten nur in deren Rahmen. Wer von außen kommt, teilt ihre Grundrechte nicht. Natürlich verneinen die Kommunitaristen nicht die internationalen Menschenrechtspakte, aber aus ihrer Sicht hängen diese ethisch in der Luft. Zu Ende gedacht, erübrigt sich damit jedoch jede Anerkennung des "Fremden", er wird zum Outlaw. Ist die Grenze moralisch geschlossen, bringt es der Flüchtling am Zaun nur zum Bittsteller, der allenfalls Gnade erwarten darf.
Überzeugend sind darum nur die Gerechtigkeitslehren, die beide Prämissen anerkennen, Demokratie und Universalität. Demokratien sind das Reich der politischen Selbstbestimmung, der Freiheit und Wahl, der Integration individueller und kollektiver Subjektivität, der Teilhabe an selbst gewählten Konventionen und Traditionen, kurz der Souveränität. Universelle Rechte erkennen demgegenüber die Gleichheit und Würde aller Menschen an und transzendieren damit die unvermeidliche humanitäre und auch politische Borniertheit jeder nationalen demokratischen Gemeinschaft. Doch deren unersetzliches Autonomierecht heben sie nicht auf.
Universalität ist längst mehr als nur ein Rechts- und Moralprinzip
Keiner hat diese spannungsreiche Dialektik in der Tradition Immanuel Kants so genau ausgearbeitet wie Jürgen Habermas. Bei Kant hatte der Zuwandernde nur Gastrechte, das reicht heute nicht mehr. Universalität ist längst mehr als nur ein Rechts- und Moralprinzip, sie existiert de facto.
Alle Welt weiß das. Trotzdem zieht es viel zu wenige normative und mentale Konsequenzen nach sich, dass die Vernetzung durch ökonomische Ströme, durch ökologische Risiken und Ressourcenkämpfe, durch kosmopolitische Vermischung, durch den bis in entferntesten Winkel geteilten way of life, durch militärische Interventionen und grenzüberschreitende Tragödien, überhaupt durch geopolitische Verantwortlichkeiten so weit fortgeschritten ist, dass sich nationale, postnationale und universelle Grundwerte und Achtungsansprüche nur noch wechselseitig legitimieren. Das weltweite Gleichheitsrecht ist heute ein Gebot der Realpolitik wie der Ethik.
Aber: Das nimmt der - wenn auch transnational fragmentierten - demokratischen Selbstbestimmung nicht ihre Berechtigung. Mögen Bürger mehr und mehr zu Weltbürgern werden, so bleiben sie doch auch nationale Bürger, wenn auch auf immer verschränktere Weise.
Wie sehr dies das Flüchtlingsproblem in seinem tiefsten Kern betrifft, drückt ein zentraler Gedanke von Habermas aus: Es gibt keine Fremden nur jenseits der Grenze. Wir können uns selbst nur identifizieren, indem wir uns zugleich durch "gegenseitige Perspektivenübernahme" als Fremde unter Fremden wahrnehmen. "Der selbstreflexiv gewordene Universalismus assimiliert den jeweils Anderen nicht ans Eigene, sondern geht von der Prämisse aus, dass jeder für den Anderen ein Anderer ist - und bleiben will."
Demokratien müssen sich also nicht von außen die höhere Einsicht aufzwingen lassen, dass sie sich auch im Inland mit dem Fremden zu arrangieren haben. Das Fremde ist das konstitutive Element ihres inneren Zusammenhalts. Selbst wenn wir ganz unter uns sind - sind wir Mitbürger und Fremde. Auch hier gilt das Paradox: Ausgerechnet der progressive Individualismus kann, eben weil er sich aus reflektierter Eigen- und Andersheit zusammensetzt, dem Fremden sehr viel emphatischer begegnen als scheinhomogen verklebte Kollektive.
Aber auch beim besten Willen verflüchtigt sich die Spannung zwischen demokratisch-nationalem Eigeninteresse und universellem Offenheitsgebot nicht. Für die Herkulesaufgabe, Flüchtlinge als vertrauenswerte Fremde bis an die Grenzen der nationalen und mentalen Aufnahmefähigkeit zu empfangen, müssen Demokratien mehr als bisher dazulernen. Voraussetzung dafür ist, die Idee der "zivilen Nation" zu akzeptieren, die schon die Französische Revolution hervorbrachte: Sie ist nicht auf Blutsbanden gegründet, sondern auf stets neu zu verhandelnden Werten und Zusammengehörigkeiten.