Gregor Gysi unter Stasi-Verdacht:"Wir berichten, was die Akten sagen"

Stasi-Vorwürfe gegen Linke-Fraktionschef Gysi haben durch neue Unterlagen der Birthler-Behörde neue Nahrung erhalten. Im Interview erläutert Marianne Birthler, inwiefern der Fall Gysi atypisch ist - aber trotzdem klar.

Franziska Augstein und Heribert Prantl

SZ: Wen soll Gregor Gysi an die Stasi verraten haben? Seinen Mandaten Havemann? Seinen Mandanten Bahro?

Marianne Birthler, ddp

Marianne Birthler ist seit 2000 Beauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit. Die evangelische Christin engagierte sich seit Ende der siebziger Jahre in der Kirche und protestierte in der DDR öffentlich gegen Unterdrückung. In der Wendezeit trat sie der Bürgerbewegung Bündnis 90 bei.

(Foto: Foto: ddp)

Marianne Birthler: Nach Aktenlage hat Rechtsanwalt Gysi über seinen Mandanten Havemann an die Stasi berichtet.

SZ: Havemann hat sich aber lobend über Gysi und seine Tätigkeit geäußert, ebenso wie Bahro, der 1995 schrieb: "Es kann doch für den Vorwurf des Mandantenverrats nicht ohne Bedeutung sein, wenn der angeblich Verratene (Anm.: also der Mandant Bahro) die Sache ganz anders sieht." Florian Havemann, ein Sohn des verstorbenen DDR-Regimekritikers, sagte unlängst wieder, Gysi habe im Sinne seines Vaters gehandelt.

Birthler: Meine Behörde entscheidet nicht darüber, ob wer wem geschadet hat. Wir haben zu entscheiden, ob sich aus den Stasi-Unterlagen eine willentliche und wissentliche Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ergibt. Die Frage nach dem Schaden, der dadurch verursacht wurde, muss auf einer ganz anderen Ebene der Diskussion gestellt werden.

SZ: Ist die Frage für Sie irrelevant?

Birthler: Im Gegenteil. Mit dieser Frage setze ich mich häufig auseinander, wir haben es ja oft mit früheren IMs zu tun, die meinen, sie hätten zwar dem MfS Berichte gegeben, aber keinem geschadet. Sicher hat es IMs gegeben, die denjenigen, über die sie berichtet haben, nicht schaden wollten. Aber die Frage, was wirklich ein Schaden ist, entzieht sich ihrer Kenntnis - weil jede Information, sogar wohlwollende Information, in den Händen der Stasi zur Gefahr werden konnte.

SZ: Nicht einmal der Geschädigte sollte und soll beurteilen können, ob ihm geschadet wurde?

Birthler: Wenn der IM über seine Nachbarin sagte, "die liebt ihre Kinder über alles", in dem Bemühen, nichts Böses über die Nachbarin zu sagen, dann ist das keine üble Nachrede, und der IM kann subjektiv sagen, er wollte ihr nicht schaden. Was die Stasi mit dieser Information gemacht hat, steht aber auf einem ganz anderen Blatt. Für die Stasi konnte das ein wichtiges Indiz sein um zu folgern: "Da hat sie ihre sensible, schwache Stelle. An der Stelle packen wir zu."

SZ: Havemann sagte, er habe ohnehin damit gerechnet, dass alles, was er redet, bei staatlichen Stellen landet - egal bei welchen.

Birthler: Für meine Behörde geht es immer nur um die Frage, ob jemand nach Aktenlage wissentlich und willentlich mit dem MfS zusammengearbeitet hat. Gysi sagt, er habe überhaupt nicht mit dem MfS gesprochen und ihm nicht berichtet. Die Akten sagen: Er hat direkt mit dem MfS kommuniziert. Darum geht der Streit - nicht darum, zu welchem Zweck und mit welchen Folgen das geschehen ist.

Wenn Gysi sagen würde "ja, ja, ich habe zwar mit dem MfS kommuniziert und Berichte geliefert, aber alles im Auftrag und mit Wissen meines Mandanten", dann wäre das eine andere Debatte. Bevor es aber um die politische oder moralische Dimension geht, müssen erst einmal die Fakten auf den Tisch. Nach unserer Einschätzung und der des Deutschen Bundestages hat Gysi dem MfS berichtet. Er bestreitet das.

SZ: Der Immunitätsausschuss hat sein Urteil 1998 auf Grundlage von zwei Gutachten Ihrer Behörde abgegeben. Gysi hat ja eingeräumt, mit der Stasi gesprochen zu haben - aber er sagt, er habe dies nicht gewusst: Der Stasi-Major Lohr habe sich ihm als Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft namens Lohse vorgestellt.

Er habe also mit dem Staatsanwalt Lohse geredet, nicht mit dem Stasi-Offizier Lohr. Und Lohr habe ihn dann wohl, hoffnungsvoll und im falschen Vorgriff, schon mal als "IM Gregor" eingetragen. Das sei er aber nie gewesen.

In einem MfS-Akten-Vermerk vom 27. 11. 1980 heißt es, man halte Gysi für geeignet, es sei deshalb vorgesehen, "beim nächsten Treff den Kandidaten nochmals die Bedeutung der Zusammenarbeit aufzuzeigen". Das alles klingt nach intensiver Werbung auf der Stasi-Seite und nach großer Zurückhaltung Gysis auf der anderen Seite.

Birthler: Das mögen Sie so interpretieren. Die Gesamtheit der Aktenlage ergibt ein anderes Bild, und wir halten uns an die vorliegenden, von Gysi stammenden Berichte. Wir wissen freilich, dass es einiges Durcheinander gibt hinsichtlich der Frage, wann Gysi als was bei den verschiedenen Diensteinheiten des MfS registriert war.

SZ: Durcheinander? Ist das das richtige Wort? Als IM registriert ist Gysi überhaupt nirgends. Es gibt nur Vorlaufakten - vorläufige Akten also über Anwerbungsversuche.

Birthler: Die Anwerbung Gysis und die Frage seiner Kategorisierung hat seinerzeit mein Vorgänger schon ausführlich dargestellt. Und der Immunitätsausschuss des Bundestags hat sich gründlich damit befasst. Ich kann zusammenfassend sagen: Gysis Fall ist hinsichtlich seiner Registrierung tatsächlich unübersichtlich und auch atypisch verlaufen.

Andererseits ist er nicht einmalig: Das MfS registrierte gelegentlich aus Gründen der Geheimhaltung nach innen anders als üblich. Entscheidend für die Frage, ob es sich im Einzelfall um eine IM-Unterlage handelt, ist deshalb weder die Kategorisierung einer Person noch das Vorliegen einer schriftlichen Verpflichtungserklärung, sondern einzig und allein, ob aus den Akten mit hinreichender Sicherheit hervorgeht, dass jemand willentlich und wissentlich an die Stasi berichtet hat.

So hat das der Gesetzgeber festgelegt und er hat sich dabei ja auch etwas gedacht. Sicherlich: Es gibt keine schriftliche Verpflichtungserklärung von Gysi. Aber in wichtigen Fällen hat die Stasi ja bewusst davon abgesehen.

SZ: Es gibt auch keine Notizen über einen Handschlag oder Ähnliches.

Birthler: Es geht, ich sage es noch einmal, letztlich nicht darum, wie Gysi registriert war, sondern allein darum, ob er Berichte geliefert hat.

Lesen Sie auf Seite zwei, was Gysi an die Stasi berichtet haben soll.

"Wir berichten, was die Akten sagen"

SZ: Was hat er berichtet? Worin besteht der Bericht?

Stasi-Akten, ddp

Die Birthler-Behörde verwaltet die Unterlagen der früheren DDR-Staatssicherheit und ist damit eines der größten Archive Deutschlands. Ihre Mitarbeiter geben nicht nur Akten heraus, sie erforschen auch die Geschichte der Stasi und veröffentlichen eigene Untersuchungen.

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Birthler: Sie meinen sicher die jetzt in Rede stehenden neuen Unterlagen. Darin hat Gysi über seine Gespräche mit Havemann und anderen berichtet.

SZ: Genauer, bitte.

Birthler: Da ist der Bericht über ein Gespräch im Hause Havemann. Anwesend waren vier Personen, das Ehepaar Havemann, eine vierte männliche Person und Rechtsanwalt Gysi, der in diesem Stück mal IM genannt wird und mal Rechtsanwalt Gysi.

SZ: Wenn da der Klarname Gysi steht, ist das doch nicht sehr konspirativ. Das klingt doch eher so, als handele es sich bei Gysi und dem IM um zwei verschiedene Personen.

Birthler: Genau darum ging es hier: Sind Gysi und der IM zwei Personen oder ein und dieselbe? Die innere Konspiration des MfS verlangte es, die Identität des IM zu verschleiern. Wenn also ein IM über ein Ereignis berichtete, bei dem er selber zugegen war und die Gesprächsteilnehmer benennt, muss er sich auch selbst erwähnen. Schließlich muss der Bericht ja darstellen, was wirklich passiert ist.

So war es auch hier: Anwesend waren nach dem Bericht der Mandant, dessen Ehefrau, eine vierte Person und Rechtsanwalt Gysi. Eine zusätzliche Person, die der IM gewesen sein könnte, hätte aus dem Vier-Personen-Stück ein Fünf-Personen-Stück gemacht. Dass es tatsächlich nur vier waren wissen wir jetzt durch den im Dokument genannten Thomas Erwin, der jetzt Klingenstein heißt.

Er bestätigt, dass es sich wirklich nur um vier Personen gehandelt hat. Und wenn bei vier Personen einer Herr Klingenstein war, dann das Ehepaar Havemann da war und viertens Rechtsanwalt Gysi, und wenn zugleich der IM anwesend war, dann ist es sehr einfach, den Zusammenhang herzustellen.

SZ: Das ergibt sich aber nun gerade nicht aus den Akten, sondern aus sonstigen Aussagen. Wenn man aber solche belastenden sonstigen Aussagen, hier also die von Klingenstein, heranzieht, dann müsste man auch entlastende sonstige Aussagen heranziehen - etwa die des Stasi-Offiziers Lohr alias Staatsanwalt Lohse, der vor Gericht ausgesagt hat, dass er in den Akten bei Gysis "Berichten" hochgestapelt habe.

Er habe diese Berichte gar nicht von Gysi erhalten, aber diesen Eindruck erwecken wollen und in Wahrheit in den Akten nur alles Mögliche aus vielen Quellen über Gysi gesammelt.

Birthler: Lohr hat über viele Jahre in der Bekämpfung der Opposition äußerst gewissenhaft gearbeitet. Er stand weit oben in der Hierarchie. Der hat niemandem etwas vorgegaukelt. Stasi-Unterlagen wurden - im Eigeninteresse - zuverlässig geführt. Und es ist ja auch nicht das erste Mal, dass Stasi-Offiziere, die eigentlich großen Wert auf die Akkuratesse ihrer Arbeit legten, nachträglich glauben machen wollen, sie hätten geflunkert.

Mit dem, was Lohr da über sich sagt, wäre er in der DDR vor dem Militärgericht gelandet. Wenn Stasi-Offiziere versucht haben, Dinge falsch darzustellen, war das kein Kavaliersdelikt. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass ausgerechnet Lohr seine Akten sozusagen gefälscht haben soll.

SZ: Zu den Tonbandprotokollen über Havemann. Gysi sagt, er habe für seine eigenen Anwaltsunterlagen, so wie es üblich ist, Berichte in seiner Kanzlei diktiert. Kann es sein, dass er abgehört oder von einem Spitzel in der Kanzlei abgeschöpft worden ist?

Birthler: Auch dafür gibt es in den Akten keinerlei Hinweise. Und was Gysis eigene Notizen betrifft: Gysi hatte sich gegenüber dem Verwaltungsgericht zunächst bereiterklärt, die Handakte oder auch den betreffenden Teil dem Gericht vorzulegen. Später wollte er das doch nicht und ist dann gerichtlich aufgefordert worden, diese Unterlagen beizubringen. Das hat er nicht getan.

SZ: Das durfte er wohl auch nicht - wegen des Anwaltsgeheimnisses. Aber bleiben wir beim Abhören: Die Tonbandabschriften in den Stasi-Akten könnten doch auch auf der Basis von Abhöraktionen bei Havemann gefertigt worden sein.

Birthler: Wir haben ja eine nahezu vollständige Aktenlage zu Havemann. Da gibt es zwar unzählige Abhörprotokolle - aber nur bis etwa Mitte der sechziger Jahre. Danach fand keine Abhöraktion im Haus Havemann statt. Der Grund ist banal, Havemann hatte von 1976 an Hausarrest und die Abhörtechnik war schwierig zu warten; es fehlte den Abhörspezialisten also die Gelegenheit. Nichts, aber auch gar nichts an dieser Unterlage deutet darauf hin, dass die Information auf einem anderen Weg als über Herrn Gysi gelaufen sein könnte.

SZ: Na, trotzdem könnten doch mal Mechaniker bei Havemann geklingelt haben... Die neuen belastenden Erkenntnisse gegen Gysi, von denen Sie dieser Tage sprechen, haben mit dem schon genannten Klingenstein zu tun, der damals Erwin hieß und zusammen mit Gysi beim Ehepaar Havemann zu Besuch war.

Birthler: In einem der neu aufgefundenen Dokumente ist von Erwin die Rede. Dieser Vermerk wurde bei der Rekonstruktion zerrissener Unterlagen aufgefunden. Darin berichtet der genannte IM sinngemäß, dass der IM nach dem Gespräch im Hause Havemann Herrn Erwin im Auto mitgenommen und in die Stadt gefahren hat.

Warum es auch innerhalb der Birthler-Behörde Streit um die Gysi möglicherweise belastenden Unterlagen gab, lesen Sie auf Seite drei.

"Wir berichten, was die Akten sagen"

SZ: Und daraus schließen Sie, dass Gysi dieser IM war?

Birthler: Wer sonst? Gysi und Klingenstein, der damals Erwin hieß, fuhren nach Berlin, Havemanns blieben zu Hause. Mehr Leute waren nicht beteiligt.

SZ: Als Richter würde ich eine Verurteilung darauf nicht stützen.

Birthler: Wir verurteilen nicht. Bevor wir Unterlagen herausgeben, müssen wir beurteilen, ob es sich zweifelsfrei um IM-Unterlagen handelt oder nicht.

SZ: Darüber gab es Streit in Ihrer Behörde.

Birthler: Nicht über die Herausgabe an sich, sondern über das Verfahren. Bei so einem komplizierten Sachverhalt ist es völlig normal, dass in einer Behörde unterschiedliche Auffassungen und Bewertungen bestehen. Wir haben ja nicht die Möglichkeit, Zeugen zu vernehmen, bevor wir eine Unterlage einstufen.

Mittlerweile gibt es Aussagen von Beteiligten, nämlich von Thomas Klingenstein, der früher Erwin hieß. Daraus ergibt sich, dass in dem Auto in dem der "IM Erwin mit in die Stadt nahm", Erwin und Gysi saßen, niemand sonst.

SZ: Zu den Gerichtsverhandlungen und den Urteilen. In einem Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg wird ihrer Behörde vorgeworfen, diese würde sich aus den Akten nur bestimmte belastende Dinge herauspicken. Ähnlich haben sich vier Richter des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts 1998 in einem abweichenden Votum geäußert: Sie hatten den Eindruck, Gysi solle aus gegenwartspolitischen Gründen diskreditiert werden.

Birthler: Schließlich hat das Gericht Gysis Klage gegen den Immunitätsausschuss abgewiesen. Im Übrigen wird der Beweiswert der Unterlagen von Gerichten verschieden beurteilt. Es gibt in der Tat eine ganze Prozessserie, in der Gysi verschiedensten Medien mit Erfolg die Behauptung hat verbieten lassen, er hätte gearbeitet wie ein IM. Die Medien hatten jeweils mich damit zitiert. Interessanterweise hat Gysi mich als die Urheberin des Zitats nie verklagt.

SZ: Einmal ging es um ein Zitat eines CDU-Politikers. Dass Gysi Sie nicht verklagte, dürfte beweisrechtliche Gründe haben. Presserechtliche Klagen sind einfacher zu führen als Unterlassungsansprüche gegen Sie. Wenn Gysi gegen Sie klagt, muss er beweisen, dass Ihre Angaben falsch sind. Wenn er gegen die Presse klagt, muss die Presse beweisen, dass sie recht hatte mit ihren Angaben.

Birthler: ... im Eilverfahren mit eingeschränkter Beweisaufnahme. Wie auch immer - wer mir unterstellt, ich würde parteipolitisch arbeiten, verkennt die Arbeitsweise unserer Behörde. Auch den Zeitpunkt für die Herausgabe der besagten Havemann-Unterlagen habe nicht ich bestimmt, sondern allein Herr Gysi. Er hatte gegen die Herausgabe der Unterlagen geklagt und verloren.

Am Tag vor der Verhandlung seiner Berufungsklage hat er diese zurückgezogen. Damit wurde das erstinstanzliche Urteil automatisch rechtskräftig, und ich hatte die Unterlagen unverzüglich an den Antragsteller herauszugeben. Das war drei Tage vor dem Parteitag von Gysis Partei. Mir zu unterstellen, dass ich diesen Zeitpunkt aus politischen Gründen gewählt hätte, ist ja nun wirklich hanebüchen.

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