Süddeutsche Zeitung

Greenpeace-Studie über Atommeiler:Anleitung zum Super-GAU

  • Greenpeace Deutschland warnt vor der Gefahr von zivilen Kampfdrohnen für Atomkraftwerke - und entwirft dafür Szenarien wie in einem Action-Film.
  • Drohnen, so die Befürchtung, könnten dazu genutzt werden, Sprengstoff auf das Gelände von AKWs zu schmuggeln. Dort könnten Terroristen Kühlsysteme in die Luft jagen, warnt die Umweltschutzorganisation.

Von Robert Gast

Sie kommen nachts, und sie fliegen dort, wo eigentlich nichts fliegen darf: In den vergangenen Wochen haben Unbekannte in Frankreich immer wieder Drohnen über Atomkraftwerke gesteuert. Die französischen Behörden ermitteln, bisher ohne Erfolg. Nun hat sich Greenpeace zu Wort gemeldet: Während die französischen Behörden und die Betreiber der Meiler behaupten, von den nächtlichen Aktionen ginge keine Gefahr aus, schlägt die Umweltschutzorganisation Alarm. Die Drohnenüberflüge gäben Grund zur Besorgnis, heißt es in einer aktuellen Studie von Greenpeace Deutschland.

In dem 33 Seiten langen Bericht "Gefahr aus der Luft" argumentiert die Diplom-Physikerin Oda Becker, zivile Drohnen seien ein bisher unterschätztes Sicherheitsrisiko für französische Atomkraftwerke. Die bis zu zwei Meter großen Fluggeräte könnten von Terroristen eingesetzt werden, um Sprengstoff auf das Gelände der Meiler zu transportieren - und so bei einem gezielten Angriff auf die Kühlsysteme der Meiler helfen. In diesem Fall könne es zu einer Kernschmelze kommen, behauptet Greenpeace. "Meist wird die Gefahr von Terrorangriffen auf Atomkraftwerke bewusst heruntergespielt", heißt es in dem Bericht.

Ein Super-GAU in Frankreich?

Am heikelsten wäre laut Greenpeace-Analyse eine Attacke auf Fessenheim, 30 Kilometer von Freiburg entfernt. Das AKW wurde 1978 in Betrieb genommen, 2016 soll es stillgelegt werden. Die zwei Reaktoren der Anlage stecken jeweils im Inneren eines etwa 40 Meter breiten und 50 Meter hohen Stahlbeton-Zylinders. Dieser sei aber "nur" 90 Zentimeter dick, warnt Greenpeace. Das entspreche nicht mehr dem Stand der Technik, heute würde man zwei Meter dicke Betonpanzer verbauen, um den radioaktiven Kern zu schützen.

Im Greenpeace-Bericht entsteht der Eindruck, die 90 Zentimeter Beton seien der einzige Schutz, den Terroristen durchdringen müssten. Wer ein Loch in die äußere Betonhülle sprengt, ist allerdings noch längst nicht zum Reaktorkern vorgedrungen. Diesen umgeben zusätzlich eine ungefähr ein Zentimeter dicke Stahlhülle (der "Steel Liner") und eine weitere Betonschicht (der "biologische Schild"). So kommt auch die Greenpeace-Expertin zu dem Ergebnis: "Eine direkte Gefahr für die Sicherheit eines Atomkraftwerks ist von einer Drohne (...) theoretisch nicht zu erwarten." Selbst der Absturz mehrerer solcher Drohnen würde vermutlich von den Sicherheitssystemen und ergriffenen Notfallmaßnahmen aufgefangen. Eine kleine Hintertür hält sich die Autorin dennoch offen: Es erscheine "nicht unmöglich", dass mit Sprengstoff beladene Drohnen die externe Stromversorgung und die Notstromversorgung zerstören könnten.

Doch damit ist der Bericht noch nicht zu Ende. Auf den nächsten Seiten entwirft Oda Becker Szenarien, die an einen Action-Film erinnern. So könnten die Drohnen dem Bericht zufolge dazu dienen, Sprengstoffladungen auf ein AKW-Gelände zu bringen. Eingeschleuste Terroristen könnten wiederum das Päckchen in Empfang nehmen - und das TNT an verwundbaren Stellen detonieren lassen. "Innentäter stellen für Atomkraftwerke eine mindestens ebenso große Bedrohung dar wie terroristische Angriffe von außen", so der Bericht.

Wenn eine Gefahr alleine nicht ausreicht, einen Super-GAU auszulösen, müssen eben weitere Gefahren hinzukommen - egal wie unwahrscheinlich diese zusammengenommen auch sein mögen. Dieses Argumentationsmuster zieht sich durch den gesamten Greenpeace-Bericht. So entstehen nur schwer vorstellbare Angriffsszenarien, an deren Ende die Kernschmelze steht.

Das zeigt sich etwa in der Passage, in der die Autorin beschreibt, wie Terroristen ein Atomkraftwerk infiltrieren könnten, per Drohne Sprengstoff geliefert bekämen und damit gezielt Anschläge auf "neuralgische Punkte" des AKWs verüben.

In der Praxis müsste man wohl ziemlich viele "neuralgische Punkte" erwischen: Brenzlig würde die Lage in einem Atomkraftwerk vermutlich erst, wenn die Eindringlinge nicht nur die Stromleitung kappen und die Dieselgeneratoren zerstören, die im Falle eines Blackouts die Kühlpumpen weiter mit Saft versorgen. Sie müssten wohl auch die Hilfskräfte stoppen, die mit Ersatz-Generatoren und Aushilfs-Pumpen zur Anlage eilen.

Wenn Sprengstoff nicht reicht - es gibt ja noch Raketen

Normalerweise bleibt selbst bei einem Totalausfall der Kühlung noch Zeit, eine Kernschmelze abzuwenden - in Fukushima begannen, Schätzungen zufolge, die Brennstäbe erst vier Stunden nach Ausfall der Kühlung zu schmelzen. Erst muss das Kühlwasser verdampfen, das den Reaktorkern im normalen Betrieb füllt. Und dann müssen sich die freiliegenden Brennstäbe auf hunderte Grad erhitzen - in ihrem Inneren zerfallen auch nach dem automatischen Abschalten des Reaktors noch radioaktive Atome, was die Wärme erzeugt. Im Falle des Abklingbeckens, in dem alte Brennstäbe abkühlen, hat man deutlich mehr Zeit: Hier fängt das Wasser laut der amerikanischen Atomaufsichtsbehörde NRC erst nach 25 Stunden an zu kochen.

Schneller ginge es freilich, wenn eine Explosion ein Leck ins Becken sprengt - vor diesem Fall warnt Greenpeace. In Fessenheim befindet sich das Abklingbecken offenbar außerhalb des Schutzbehälters, wie ein Stresstest des Öko-Instituts ergab. In einem Industrieland, das nicht gerade von einer historischen Naturkatastrophe heimgesucht wurde, würde im Falle eines Unfalls vermutlich binnen kurzer Zeit Hilfe von außen kommen - in Fukushima war das wegen zerstörter Straßen viele Stunden nicht möglich.

Greenpeace aber denkt an das Unwahrscheinliche, um ein Bedrohungsszenario aufrechtzuhalten: "Falls die Umstellung auf Eigenbedarf misslingt und die Notstromversorgung durch den Angriff oder aufgrund von davon unabhängigen Fehlern ebenfalls ausfällt, müsste die Betriebsmannschaft mit mobilen Geräten eine Stromversorgung für die Kühlung des Brennstoffs im Reaktorkern und im Lagerbecken herstellen."

Panzerbrechende Raketen

Und wenn das Betriebspersonal die Lage unter Kontrolle bringt? Auch hierfür präsentiert der Bericht seine eigene Version: "Mit kleineren Sprengstoffmengen bestückte Drohnen könnten auch gegen die Betriebsmannschaft und das Sicherungspersonal eingesetzt werden."

Terroristen, die mit Drohnen Sprengstoff einschmuggeln, das von Schläfern zur Detonation gebracht wird, die wiederum von weiteren Drohnen von außerhalb Kampfunterstützung erhalten: Das ist längst noch nicht die maximale Eskalationsstufe, die Greenpeace einfällt. Terroristen könnten mit panzerbrechenden Raketen die Kuppel angreifen, warnt der Bericht in einem weiteren Szenario. Dezidiert beschreibt die Autorin, wie man durch wiederholten Beschuss des Reaktorgebäudes bis zum Kern vordringen könnte. Sogar einen dafür geeigneten Waffentyp nennt sie.

Dann folgt in einem dritten Szenario der dramatische Höhepunkt des Berichts: "Denkbar für einen Terroranschlag aus der Luft ist z.B. ein Angriff mit einem Hubschrauber." Diesen könnten Terroristen "relativ einfach" entführen, etwa bei einem privaten Rundflug. Dass Atomkraftwerke möglicherweise über Luftabwehr-Raketen verfügen? Geschenkt.

Fast schon sehnsüchtig wirkt es, wie der Bericht Szenarien konstruiert, in denen sich wider alle Wahrscheinlichkeiten Sicherungsvorkehrungen eines Atomkraftwerks aushebeln ließen. Natürlich ist es nicht verboten, auch über unwahrscheinliche Szenarien nachzudenken. Die Autorin der Studie betont, dass sie bewusst sicherheitsrelevante Details weggelassen habe, um niemandem eine Blaupause zu liefern. Dann aber werden in dem Bericht Szenarien entworfen, die an eine wilde Räuberpistole erinnern. Vielen Menschen dürfte das in erster Linie Angst machen - und letztlich könnte es erst recht die Fantasie von Terroristen beflügeln.

Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels hieß es, Greenpeace warne davor, dass das Kühlwasser in den Brennelementebecken verdampfen könnte. Richtig ist, dass die Studie vor einem Leck in einem der Becken warnt. Auch wurde bisher nicht deutlich genug, dass die Autorin drei unterschiedliche Angriffsszenarien darlegt: Angriff durch Innentäter, Angriff mit panzerbrechenden Waffen und Angriff per Helikopter. Wir haben das entsprechend geändert und wenige andere Stellen präzisiert. Wir bitten, die Ungenauigkeiten zu entschuldigen.

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