Die große Debatte soll in einem großen Finale enden. Am Montagvormittag versammeln sich die Hälfte der französischen Regierung und Premier Édouard Philippe vor geladenen Vertretern aus Lokalpolitik und Zivilgesellschaft im Pariser Grand Palais. Unter der riesigen Glaskuppel zieht die Exekutive die Bilanz von beinahe drei Monaten Diskussionen. Eineinhalb Millionen Franzosen haben sich an dem Grand débat beteiligt, den Präsident Emmanuel Macron ins Leben gerufen hatte, um den Aufstand der Gilets jaunes, der sogenannten Gelbwesten, zu beenden. "Wir können nicht weiter regieren wie bisher", sagt Philippe, als er die Ergebnisse der großen Volksbefragung vorstellt. In Philippes Interpretation der aktuellen politischen Lage wird die Zäsur nicht von den Samstagen markiert, an denen Hunderttausende Franzosen in gelben Warnwesten gegen ihren Präsidenten demonstrierten und immer noch demonstrieren. Der tiefe Einschnitt erfolgte durch den Grand débat. Er habe die Basis für "eine partizipative Demokratie" geschaffen.
Wer Philippes Einschätzung folgt, wertet das basisdemokratische Massenexperiment der Regierung als Erfolg. Doch tatsächlich bleibt unklar, was dieser Grand débat nun eigentlich war. Eine Bühne für den Präsidenten, auf der er zeigen konnte, wie gut er sich auskennt und wie rhetorisch brillant er kontern kann? Eine riesige Meinungsumfrage mit unklarer Methodik? Eine Möglichkeit für die Franzosen, sich zu Wort zu melden? Eine Wiederbelebung der politischen Kultur? Ein Ablenkungsmanöver von der nicht endenden Gewalt, mit der seit vier Monaten jeden Samstag Demonstranten und Polizisten in französischen Innenstädten aneinandergeraten? Die Antwort lautet: von all dem ein bisschen.
Auf der Internetseite des Grand débat lassen sich inzwischen die Zusammenfassungen der Forderungen und Wünsche nachlesen, die jene Franzosen umtreiben, die online oder bei Bürgerversammlungen ihre Meinung zu Protokoll gegeben haben. Für die Auswertung all dieser Beiträge haben die Organisatoren des Grand débat ein Bild gefunden, das wie geschaffen ist, um Einigkeit zu repräsentieren. Die Ergebnisse werden nicht als Torten- oder Balkendiagramme präsentiert, sondern als Baum. Beim Stamm sind noch alle einer Meinung: Alle Franzosen müssen mehr Geld zur Verfügung haben, deshalb müssen die Abgaben sinken. Danach kommen Äste, Zweige, Blätter. Meinungen also, die oft nur einstellige Prozentwerte bei der Zustimmung erhalten. Der französische Meinungsbaum verästelt sich zwischen der Forderung, die Nationalversammlung aufzulösen, die Ökologiewende voranzutreiben (aber ohne neue Steuern zu erheben), die Renten zu erhöhen. Mit etwas Optimismus kann man festhalten, dass der Baum eine dichte Krone hat. Pessimistischer gesprochen: In all dem Blattwerk geht die Übersicht verloren, und es wird kompliziert werden, wenn Präsident Macron in der kommenden Woche versuchen will, aus dem Wust an Hoffnungen einen politischen Maßnahmenkatalog abzuleiten.
Bei seiner offiziellen Bilanz zieht Premier Philippe im Grand Palais vier Schlussfolgerungen. Die Franzosen seien erstens verbittert über die aktuelle Steuerpolitik. Zweitens lebten viele in einem Gefühl der Vereinzelung, in dem ihnen sowohl der Kontakt zu staatlichen Institutionen als auch zur Politik fehle. Drittens werde eine Erneuerung der Demokratie gefordert. Viertens sorgen sich die Franzosen um den Klimawandel. Sie seien bereit, "ihr Verhalten zu ändern", allerdings seien sie nicht bereit, Steuern zu zahlen, die eine ökologische Wende finanzieren könnten.
Während Philippes Rede sich auf die geäußerten Meinungen konzentrierte, gaben die sogenannten Garanten, von der Regierung beauftragte Beobachter der Debatten, zu bedenken, dass keine der im Grand débat getroffenen Aussagen als repräsentativ betrachtet werden könne. Tatsächlich hatten sich die prominentesten Figuren innerhalb der Bewegung der Gilets jaunes offen gegen eine Teilnahme am Grand débat ausgesprochen, auch die linke und die rechte Opposition, angeführt von Jean-Luc Mélenchon (France Insoumise) und Marine Le Pen (Rassemblement Nationale) tat die nationale Debatte als eine Regierungskampagne ab. Die Ansichten derjenigen, die Macron und seiner Regierung am kritischsten gegenüberstehen, dürften sich also kaum in den Dokumenten finden, die nun ausgewertet wurden.