Süddeutsche Zeitung

Gott und Staat:Vor dem Grundgesetz sind alle Religionen und Weltanschauungen gleich

Kreuze in Behörden, Gottesbezug im Grundgesetz, drei Millionen Euro Steuergelder für den Katholikentag - widerspricht das nicht der Religionsfreiheit? Fragen an den Rechtsphilosophen Horst Dreier zum Verhältnis von Staat, Gott und Religion.

Interview von Markus C. Schulte von Drach

Horst Dreier ist Rechtsphilosoph und Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Würzburg. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Verhältnis von Staat und Religion in Deutschland.

SZ: In Deutschland sind Staat und Kirche offiziell getrennt, aber besonders strikt ist die Trennung nicht: Kirchen sind Körperschaften des öffentlichen Rechts, es gibt Religionsunterricht an staatlichen Schulen und theologische Lehrstühle an staatlichen Universitäten. Und der Katholikentag in Münster wird mit drei Millionen Euro staatlicher Gelder mitfinanziert. Wenn Deutschland ein religionsneutraler Staat sein soll, was bedeutet diese Neutralität?

Horst Dreier: Wenn man sich einen weltanschaulich-religiös neutralen Staat am philosophischen oder politiktheoretischen Reißbrett entwerfen würde, dann kämen darin Dinge wie jene, die Sie genannt haben, nicht vor. Aber das Grundgesetz ist, wie jede Verfassung, letztlich auch das Ergebnis eines politischen Kompromisses. Deswegen gibt es einerseits den Neutralitätsgrundsatz, andererseits aber punktuelle Regelungen, die man als Durchbrechungen des "reinen" Modells ansehen kann.

Dabei ist aber eines ganz wichtig: Vor dem Grundgesetz sind alle Religionen und Weltanschauungen gleich. Wenn bestimmte organisatorische Bedingungen erfüllt sind, kann es beispielsweise parallel zum Religionsunterricht in staatlichen Schulen Weltanschauungsunterricht geben. Auch der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts steht nicht nur Religionen, sondern auch Weltanschauungsgemeinschaften offen. Diese Gleichbehandlung ist eine wichtige Facette des Neutralitätsgebotes.

Die bayerische Staatsregierung will nun das Kreuz in allen Landesbehörden aufhängen. Wie passt das mit dem zusammen, was Sie gerade erläutert haben?

Ich halte das für einen klaren Verstoß gegen den Neutralitätsgrundsatz. Es müssen ja nicht nur Religionen und Weltanschauungen gleich behandelt werden. Eine andere wichtige Facette des Neutralitätsgebotes besteht in der Vorgabe, dass der Staat sich nicht inhaltlich mit einer bestimmten Religion identifizieren darf. Und das tut er, wenn aufgrund eines Kabinettsbeschlusses in Ausübung der Organisationshoheit in allen Amtsgebäuden Kreuze angebracht werden.

Deshalb hat Ministerpräsident Söder das Kreuz zum Symbol für bayerische Kultur, Tradition und Identität erklärt.

Und dann doch eingeräumt, dass es ein christliches Symbol ist. Es ist eben das zentrale Symbol des Christentums schlechthin. Das kann man jetzt in seiner Bedeutung nicht einfach auf Folklore und Traditionsgut zurückschneiden und damit im Grunde entkernen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat 1995 in seiner Kruzifix-Entscheidung deutlich gesagt, dass es nicht nur das Zeichen für eine bestimmte kulturelle Prägung ist, sondern zentrales Symbol der christlichen Religionsgemeinschaft. Man kann den Sinngehalt des Kreuzes nicht kraft staatlicher Anordnung und Interpretation in eine andere Sphäre jenseits der Religion transformieren.

Könnten die Bayern nicht einfach noch weitere Symbole aufhängen? Den Davidstern? Einen Halbmond?

Und was ist mit dem Bund für Geistesfreiheit? Der Humanistischen Union? Wo bleiben die Vertreter des Fliegenden Spaghettimonsters? Die Überlegung, wenigstens die größten drei religiösen Gruppen zu berücksichtigen, würde erstens die nichtreligiösen Weltanschauungen ausschließen und zweitens verkennen, dass Grundrechte immer auch und gerade Rechte von Minderheiten sind. Die bloße zahlenmäßige Überlegenheit ist kein valides verfassungsrechtliches Argument.

Wenn der Ministerpräsident ein Symbol für die gemeinsamen Wertgrundlagen von Staat und Verfassung sucht - auch damit wurde ja die Aufhängung des Kreuzes begründet -, warum nimmt man dann nicht ein Zitat aus dem Grundgesetz oder der bayerischen Verfassung? Da finden Sie viele schöne Sätze, bei denen man sagen kann: Ja, das ist die Grundlage für alle in Bayern, unabhängig von Religion oder Weltanschauung.

Einer Umfrage zufolge sagen 63 Prozent der Bevölkerung, Deutschland sei ein "christliches Land". Häufig wird auf das Christentum als kulturprägend hingewiesen. Und viele Menschen wollen, dass das so bleibt. Lassen sich Religionen vor dem Grundgesetz unterscheiden nach solchen, die zur Kultur passen, und solchen, die das nicht tun?

Das Christentum hat in Bayern, in Deutschland, in ganz Europa und auch außerhalb davon eine zentrale Rolle gespielt, was die kulturelle, gesellschaftliche und sogar rechtliche Prägung von Staat und Gesellschaft angeht. Das ist völlig klar. Vom Islam lässt sich das nicht sagen. Aber aus diesem historischen Gewordensein kann man keinen Vorrang des Christentums für das hier und heute geltende Recht folgern. Die Religionsfreiheit gilt eben für alle Religionen. Deswegen bietet das deutsche Grundgesetz auch keine Handhabe gegen den Bau von Moscheen.

Man kann es vielleicht so ausdrücken: So wie die Verfassung auf die Vielfalt der Meinungen, der Presse, der Parteien und so weiter baut, so baut sie auch auf die Pluralität der Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften. Welche Meinung, welche Partei, welche Religion die stärkere wird, ist eine Frage der gesellschaftlichen Entwicklung. Das wird nicht vom Grundgesetz gesteuert. Und es gibt keine Handhabe, Religionen danach zu sortieren, ob sie mit der freiheitlichen Verfassung des Grundgesetzes eher in Übereinstimmung stehen als andere.

Heute gibt es in der Gesellschaft viel mehr Gruppen mit verschiedenen Religionen und Weltanschauungen als früher. Sind wir mit dem Grundgesetz gut darauf vorbereitet?

Religionsfreiheit bedeutete in Deutschland lange Zeit im Grunde Bi-Konfessionalität, weil weit über 90 Prozent der Menschen entweder katholisch oder evangelisch waren. Mit der Entwicklung zu einem multikulturellen und eben auch multireligiösen Staat steigt automatisch das Konfliktpotenzial. Das erleben wir ja seit einigen Jahrzehnten. Gerade weil das so ist, sollten wir in den Konfliktfällen wie dem Kopftuch in Schule und Gericht oder dem Kreuz in öffentlichen Räumen den Neutralitätsgrundsatz sehr ernst nehmen und entschieden zur Geltung bringen.

Wenn sich Gruppen auf Grundrechte berufen, dabei aber mit anderen Grundrechten in Konflikt geraden, was dann? Es gibt zum Beispiel das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Andererseits soll die Religionsfreiheit beinhalten, dass die Beschneidung von unmündigen Kindern aus religiösen Gründen legal ist.

Grundrechte sind im Kern Individualrechte, nicht Gruppenrechte. Und es ist nicht der Ausnahmefall, sondern die Regel, dass Grundrechte miteinander kollidieren: Etwa, wenn die Pressefreiheit in einen Konflikt mit dem Persönlichkeitsrecht eines Prominenten tritt. Hier muss eine Grenze gezogen werden. Schon Kant hat ja gesagt, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit jedes anderen nach einem allgemeinen Gesetz bestehen muss. Also kann die Freiheit des Einzelnen nur unter Berücksichtigung der Freiheit aller gewährleistet werden.

Der Fall der Beschneidung ist nun aus offensichtlichen Gründen ganz besonders heikel. Hier spielt einerseits neben der Religionsfreiheit auch noch das elterliche Erziehungsrecht eine Rolle. Vor allem aber hat dieser Akt identitätsstiftende Bedeutung für die Angehörigen des Judentums. Der Gesetzgeber hat hier eine Regelung getroffen - es handelt sich um § 1631d des Bürgerlichen Gesetzbuches -, die man akzeptieren oder kritisieren kann.

Aber unabhängig von diesem konkreten und schwierigen Fall: Stets muss versucht werden, zwischen den verschiedenen betroffenen Grundrechtspositionen einen schonenden, angemessenen Ausgleich zu finden. Das bedeutet aber nicht, dass das eine Grundrecht prinzipiell höher steht als das andere. Es gibt keine fixe Hierarchie der Grundrechte.

Wenn gegen ein Grundrecht verstoßen wird, die Betroffenen aber selbst nicht dagegen vorgehen - kann die Gesellschaft die Einhaltung der Grundrechte für solche Menschen einfordern? Etwa wenn eine Frau von einem Mann unterdrückt wird?

Wenn sich die Unterdrückung in einem Verstoß gegen Strafgesetze oder andere zwingende Rechtsvorschriften äußert, dann ist die Sache klar. Wir müssen aber zwischen der Rechtslage und der faktischen Lebenssituation unterscheiden. Der Rechtslage zufolge herrscht in Deutschland Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, wobei man hinzufügen kann, dass das im Ehe- und Familienrecht auch erst seit den 1970er Jahren der Fall ist. Diese Rechtslage gilt für alle Frauen in Deutschland.

Das heißt aber nicht, dass es ein Verstoß gegen Grundrechte oder sonstige Gesetze wäre, wenn die konkrete Lebenswirklichkeit in Familien und Ehen nicht vom Gedanken absoluter Gleichberechtigung und partnerschaftlicher Aufgabenverteilung bestimmt ist, sondern konservativen und patriarchalischen Mustern folgt. Solche Verhältnisse sind zu tolerieren, solange - ich wiederhole es - nicht Rechtsverstöße vorliegen. Aber der Staat hat kein Mandat zu kontrollieren, ob in allen Haushalten auch der Mann einmal die Babywindeln wechselt oder den Abwasch erledigt.

Im Grundgesetz heißt es: "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen (...) hat sich das Deutsche Volk (...) dieses Grundgesetz gegeben." Damit wird unterstellt, dass Gott existiert. Der Staat ist hier nicht neutral, sondern legt sich in einer religiösen Wahrheitsfrage fest. Das zu behaupten, fehlt ihm aber die Kompetenz.

Ich glaube nicht, dass damit von Staats wegen eine Aussage über die Existenz oder Nichtexistenz Gottes getroffen werden sollte. Es ging um einen angemessen feierlichen Ton in der Präambel. Der spätere erste Bundespräsident, Theodor Heuss, hat damals im Parlamentarischen Rat von einer Art weltlicher Liturgie gesprochen.

Anders als etwa in der Schweiz oder Irland, wo in der Verfassung sogar "Im Namen Gottes des Allmächtigen" steht, soll die Formulierung im Grundgesetz nur eine Demutsgeste sein. Sie soll sagen: Wir sind uns bewusst, dass wir mit dem Grundgesetz ein fehlerhaftes Menschenwerk vorlegen und dass es etwas Höheres als die irdischen Dinge gibt.

Religionsfreiheit und weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates werden durch die Verantwortungsformel in keiner Weise beeinträchtigt oder geschmälert. Das hat auch die Verfassungskommission, die nach der Wiedervereinigung eingesetzt wurde, bestätigt.

Das Grundgesetz enthält die wichtigsten Werte unserer Gesellschaft. Wäre es nicht eine gute Idee, es allen Menschen, die in Deutschland leben, stärker ins Bewusstsein zu bringen? Zur Identitäts- oder Sinnstiftung?

Prinzipiell tut politische Bildung Not. Eine breitere und tiefere Vermittlung der Inhalte des Grundgesetzes wäre außerordentlich wünschenswert. Aber das Grundgesetz statuiert keinen Wertekanon, den jeder Bürger annehmen und internalisieren müsste. Es regelt die Organisation des Staates und garantiert die Grund- und Freiheitsrechte. Und diese umfassen auch die Freiheit, sie abzulehnen.

Das Grundgesetz akzeptiert also, dass es Menschen gibt, die seinen Inhalt für falsch halten?

Ja. Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich davon gesprochen, dass die Bürger nicht gehalten seien, die Wertsetzungen der Verfassung persönlich zu teilen. Der freiheitliche Verfassungsstaat ist eben - zum Glück - kein Tugendstaat, der auf Herz und Seele der Bürger zugreifen möchte.

Aber unsere Grundrechtsdemokratie baut darauf, dass ihr Freiheitsangebot so attraktiv ist, dass Menschen von ihren politischen Beteiligungsrechten und subjektiven Grundrechten Gebrauch machen und sich für die freiheitliche demokratische Ordnung einsetzen. Gleichwohl gibt es die Freiheit, zentrale Prinzipien des Grundgesetzes für sich abzulehnen. Erst wenn daraus der Kampf gegen die freiheitliche Ordnung wird, greifen die Instrumente der streitbaren Demokratie.

Von Horst Dreier ist jüngst das Buch erschienen: Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. Verlag C.H. Beck 2018. München - Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung. 256 Seiten, 26,95 Euro. E-Book: 21,99 Euro.

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