Süddeutsche Zeitung

Goslars Bürgermeister Oliver Junk:"Flüchtlinge sind zuerst Chance und nicht zuerst Last"

Andere wollen gar keine, Oliver Junk möchte gerne mehr Asylsuchende aufnehmen. Kritiker attestieren dem CDU-Bürgermeister von Goslar deshalb "Wahnvorstellungen."

Von Barbara Galaktionow

Viele Städte und Gemeinden haben Probleme mit der wachsenden Zahl von Flüchtlingen. Goslar hat ein anderes: Die Bevölkerung schrumpft, es werden weniger Kinder geboren als Menschen sterben. Eine Bertelsmann-Studie prognostiziert bis 2030 einen Bevölkerungsschwund von etwa 20 Prozent. Bürgermeister Oliver Junk (CDU, früher CSU) blickt deshalb mit anderen Augen auf die Flüchtlinge. Er wünscht sich eine Situation, von der beide Seiten profitieren.

SZ: Die Zahl der Flüchtlinge steigt deutlich an. Vielen Kommunen bereitet das Sorge. Sie hingegen sagen: Sie möchten mehr Flüchtlinge aufnehmen. Was unterscheidet Goslar von anderen Orten?

Oliver Junk: Ich möchte, dass wir Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, vernünftiger unterbringen. Ich denke, dass Klein- und Mittelstädte dabei helfen könnten. Goslar ist ein gutes Beispiel dafür. Die Stadt ist mit einer zurückgehenden Bevölkerung konfrontiert, etwa zehn Prozent der Wohnungen stehen leer. Hier könnten Asylsuchende untergebracht werden. Von der Integration von Flüchtlingen könnte die Stadt auf lange Sicht profitieren. Aber im Vordergrund steht, den Menschen zu helfen, und nicht, demografische Probleme zu lösen.

Wie viele zusätzliche Asylsuchende können denn bei Ihnen eine neue Heimat finden?

Ich möchte keine Zahl nennen. Tatsache ist, dass wir im vergangenen Jahr 50 Flüchtlinge aufgenommen haben, dieses Jahr waren es bislang etwas mehr als 50. Das ist in einer 50 000-Einwohner-Stadt nicht zu viel. Das ist leistbar. Und es wäre auch möglich, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Dabei möchte ich eines klarstellen: Kommunen, die groß und leistungsfähig sind, tun mehr für Flüchtlinge als kleine, auch finanziell - das soll auch so bleiben. Nur die Unterbringung könnte außerhalb dieser Kommunen, meist größeren Städten, erfolgen.

Also könnten Sie in Goslar Flüchtlinge aus Göttingen aufnehmen, weil dort Wohnraum fehlt, zahlen müsste aber weiterhin Göttingen?

Genau. Der Haushalt der großen Stadt bleibt weiterhin verantwortlich und auch die Ausländerbehörde. Göttingen macht das sogar schon. Die Stadt bringt Flüchtlinge in Hannoversch Münden unter, mein Ansatz ist also kein theoretischer, sondern ein ganz praktischer.

Dann gehen Sie es jetzt an?

Das Problem ist, dass die Bürgermeister der kleineren Kommunen nicht wissen: Wie viel Kapazitäten brauchen sie noch dieses Jahr, nächstes Jahr, übernächstes Jahr. 2014 kamen doppelt so viele Flüchtlinge wie 2013, 2015 kommen doppelt so viele wie 2014. Und wir wissen nicht, wie es weitergeht. Mit diesem Problem wird die kommunale Ebene ziemlich allein gelassen von Land und Bund. Deshalb wollen sich viele Bürgermeister von Klein- und Mittelstädten die Kapazitäten quasi "aufsparen" und nicht mehr Asylsuchende aufnehmen, als sie müssten.

Aber warum machen Sie es nicht einfach in Goslar schon? Sie haben die Idee und wollen das ja auch.

Wir haben hier die klare Verabredung zwischen dem Landkreis und der Stadt Goslar, dass der Landrat und ich es nur im Gleichklang umsetzen. Der Landrat sagt: Meine Aufnahmekapazitäten haben sich von 2014 auf 2015 verdoppelt, ich weiß nicht, wie es 2016 und 2017 weitergeht. Und solange ich das nicht weiß, kann ich nicht mehr Flüchtlinge als notwendig aufnehmen.

Sie sind an den Landkreis gebunden und können als Stadt nicht autonom agieren?

... und ich will es auch nicht.

Ein Problem an Ihrem Modell ist, dass sich mit Flüchtlingen schlecht langfristig planen lässt. Asylanträge werden oft abgelehnt.

Ich bin mit der Rhetorik der CSU-Führung in Sachen Flüchtlinge überhaupt nicht einverstanden. Also der Rhetorik wonach "Asylmissbrauch verhindert" werden müsse. Es ist ja kein Asylmissbrauch, wenn Menschen in Deutschland einen Asylantrag stellen. Dann würde ja jeder Unternehmer, der einen Förderantrag für seinen Betrieb stellt, der nicht bewilligt wird, Fördermissbrauch betreiben. Aber CSU-Chef Horst Seehofer hat in einem Punkt natürlich Recht: Die Balkanflüchtlinge nehmen auf kommunaler Ebene ganz erhebliche Kapazitäten in Anspruch, die wir eigentlich für Menschen benötigen, die tatsächlich in Not sind. Deshalb wäre es richtig, Balkanflüchtlinge nicht mehr auf die Kommunen zu verteilen. Dann würden sich die Kapazitäten in den Kommunen entspannen - und vermutlich würden dann andere Bürgermeister meinem Vorschlag folgen. Zur Verdeutlichung noch eine Zahl. Von den für den Landkreis Goslar für 2015 prognostizierten 1000 Flüchtlingen werden etwa 90 Prozent vom Balkan zu uns kommen. Würden wir diese durch einen "Spurwechsel" in eine anderes System bringen, dann hätte unser Landkreis noch 100 zusätzliche Flüchtlinge zu versorgen und wäre selbst bei einem weiteren Anstieg nicht überfordert.

Angenommen, die Balkanflüchtlinge fielen weg. Sind Sie der Ansicht, die Strukturprobleme Goslars lassen sich mit Flüchtlingen aus Krisengebieten lösen?

Strukturprobleme lösen - so hoch möchte ich es mal nicht hängen. Aber in den Flüchtlingen liegt eine große Chance für Städte wie Goslar. Im Übrigen liegt auch in der Aufnahme der Balkanflüchtlinge eine Chance für Deutschland, aber eben nicht als Asylbewerber, sondern als Einwanderer. Städte wie Goslar haben ohne dauerhaften Zuzug keine Chance. Und in jedem Flüchtling steckt natürlich ein potentieller Zuwanderer. In dem Sinne sage ich: Flüchtlinge sind zuerst Chance und nicht zuerst Last.

Von der Politik wird ja oft unterschieden zwischen nicht gewünschten Asylsuchenden und gewünschten, weil beruflich qualifizierten Einwanderern. Sie ziehen diese Grenze nicht?

Zwischen guten und schlechten Einwanderern? Nein, die mache ich nicht. Ich mache den Unterschied zwischen denen, die eine realistische Chance haben auf Erfolg ihres Asylantrags, und denen, die wir als Einwanderer prüfen müssen. Die Menschen vom Balkan müssen raus aus den Asylverfahren, hinein in ein Einwanderungsverfahren.

Sie sind also für ein Einwanderungsgesetz?

Ja.

In der Form, wie es die SPD vorschlägt?

Mit den Gedanken, die CDU-Generalsekretär Peter Tauber schon mehrfach sehr gut und klug formuliert hat.

Geraten Sie mit Ihren Ideen nicht in Konflikt zu Ihrer eigenen Partei oder der CSU, der Sie ja auch lange Jahre angehörten? Sie stehen da - bis auf Herrn Tauber - ziemlich quer.

Das empfinde ich nicht so, ich sehe sehr viele Menschen in der CDU, die ein Interesse an einem Einwanderungsgesetz haben. Und auch in der CSU sehen das viele nicht so wie die CSU-Landesleitung. Ich sehe mich nicht in einer Minderheitenposition.

Sie sagen, Sie hätten Wohnraum für Flüchtlinge. Aber wie wollen Sie denn die Menschen wirklich integrieren?

Die haupt- und ehrenamtlichen Strukturen, die wir haben, müssten natürlich mitwachsen. Die Wohnung ist nur ein Teil von vernünftiger Integration. Dezentraler Wohnraum ist allerdings etwas ganz Wichtiges - und er schafft ja auch wirtschaftliche Freiräume. Eine Wohnung in Goslar kostet lang nicht so viel wie eine Wohnung in Göttingen. Die Gelder, die frei werden durch niedrigere Wohnkosten, kann ich auch für Integration nutzen. Ein Flüchtling kostet pro Jahr in Göttingen etwa 11 000 oder 12 000 Euro im Schnitt, im Landkreis Goslar nur 8000 Euro. Überdies ist Goslar von der sozialen Infrastruktur durchaus in der Lage, vernünftige Integrationsprozesse zu starten, dafür zu sorgen, dass Menschen bei uns bleiben und sich wohlfühlen, auch Arbeit finden.

Wenn man so auf Ihrer Facebook-Seite nachguckt, herrscht keineswegs nur Zustimmung für Ihre Idee. Von "Wahnvorstellungen" ist die Rede. Ihnen wird vorgeworfen, dass es eine reine Ego-Nummer sei. Wie wollen Sie die Bürger überzeugen?

Ich versuche, den Menschen zu erklären, dass wir den Wohlstand, den wir im Moment in Goslar haben, nur erhalten können, wenn Menschen von außen kommen. Und dass in Flüchtlingen, die kommen, eine Chance steckt, wenn wir sie gut integrieren und sie bei uns bleiben. Und ich versuche, den Menschen zu erklären, dass da Menschen in Not sind, denen wir helfen können und auch sollten. Und da spüre ich in Goslar überwiegend Zustimmung, auch aus dem bürgerlich-konservativen und insbesondere aus dem kirchlichen Spektrum.

Wie geht's jetzt also weiter mit Ihrer Idee?

Ich erwarte, dass Bund und Länder das Problem der sogenannten Balkanflüchtlinge ganz schnell lösen. Und ich erwarte vom Land Niedersachsen, dass die Balkanflüchtlinge nicht mehr auf die Kommunen verteilt werden. Ich erwarte ein klares Signal an die Kommunen, mit welchen Flüchtlingszahlen wir nächstes oder übernächstes Jahr zu rechnen haben. Und ich erwarte vom Land Niedersachsen, dass man meinen Gedanken mit weiterentwickelt, moderiert und versucht, so ein Goslarer Modell positiv zu begleiten. Denn Goslar allein löst kein Problem, kann aber beispielgebend für Kommunen in ganz Deutschland sein.

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