Süddeutsche Zeitung

Kommunalwahl in Sachsen:Wer gehört dazu, wer nicht? Der Kampf um die Europastadt

Görlitz galt lange als Symbol für die europäische Idee. Jetzt könnte ein AfD-Politiker neuer Oberbürgermeister werden. Seit Monaten wird verbissen um die Identität der Stadt gerungen.

Von Antonie Rietzschel, Görlitz

Wenn Franziska Schubert über die Altstadtbrücke spaziert, dann fühlt sie Dankbarkeit. Hinter ihr liegt die Peterskirche, Görlitz, Deutschland - vor ihr der Getreidespeicher einer alten Mühle, Zgorzelec, Polen. Es sind nur wenige Schritte bis zur anderen Seite. Die junge Frau kann gehen, ohne ihren Pass vorzeigen zu müssen. "Hier ist die europäische Idee greifbar", sagt Schubert.

80 Meter spannt sich die moderne Stahlkonstruktion der Altstadtbrücke über die Neiße. Das ursprüngliche Bauwerk sprengte die Wehrmacht kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Nur die Verankerung hielt der Wucht der Explosion stand. Die Trümmer stürzten in den Fluss. Die Neiße wurde zur natürlichen Barriere, später zur offiziellen Grenze mitten durch die Stadt. Zur Eröffnung des Neubaus 2004 liefen Tausende Menschen über die Altstadtbrücke. Nach Görlitz. Nach Zgorzelec.

Die Chancen des AfD-Kandidaten stehen nicht schlecht

Franziska Schubert würde sich noch mehr solcher Brücken zwischen den beiden Städten wünschen. Vielleicht sogar eine Fähre, auch als Symbol für die europäische Idee. Doch es gibt auch Görlitzer, die in der Altstadtbrücke ein Symbol für Kontrollverlust sehen und in der fehlenden Grenzsicherung die Ursache für eine angebliche Masseneinwanderung.

Das Thema offene Grenzen spaltet Europa. Es spaltet Görlitz in Sachsen. Am 26. Mai stimmt Deutschland über die künftige Zusammensetzung des Europäischen Parlaments ab. Die Görlitzer wählen parallel einen neuen Stadtrat und einen Oberbürgermeister. Das Ergebnis wird über die politische Zukunft der Stadt entscheiden und Stimmungstest für die Landtagswahlen am 1. September sein.

"Görlitz hat eine besondere Bedeutung", sagt der AfD-Politiker Sebastian Wippel. Er hat sich als Kandidat für das Oberbürgermeisteramt aufstellen lassen. Seine Chancen stehen nicht schlecht. Bei der Bundestagswahl 2017 holte die Partei im Wahlkreis ein Direktmandat. "Das Ergebnis war ein Schock", sagt Franziska Schubert. Jetzt treten drei Kandidaten gegen Wippel an. Schubert ist eine davon. Sie will als erste Frau Oberbürgermeisterin in Görlitz werden. Und als erste Grüne.

Schubert sitzt eigentlich im Sächsischen Landtag, in der Fraktion ist sie die Finanzexpertin. Ihre Partei fristete in Ostdeutschland lange ein Zwergendasein. Doch die Umfragewerte steigen, die Mitgliederzahlen auch. Schubert hätte zur Landtagswahl im Herbst als Spitzenkandidatin der Grünen antreten können. Mit 37. Stattdessen beackert sie jetzt Kommunalthemen.

"Ich habe mich für meine Heimat entschieden", sagt sie.

Schubert ist in Ebersbach-Neugersdorf aufgewachsen, einer Kleinstadt 40 Kilometer von Görlitz entfernt. Ihre Mutter wollte, dass sie nach der Schule eine Ausbildung bei der Sparkasse macht. Sie begann ein Freiwilliges Ökologisches Jahr. In einem Erholungszentrum kümmerte sie sich um Kinder und Amphibien. 2001 verließ Schubert Sachsen, studierte Europäische Studien in Osnabrück, forschte in Budapest. Sie ist Wirtschafts- und Sozialgeografin, Stadt- und Regionalentwicklung ist ihr Fachgebiet.

2009 kehrte Schubert in die Lausitz zurück. Sie wohnt in Görlitz. Einer Stadt mit 57 000 Einwohnern. Die Straßenzüge aus der Renaissance und Jugendstilfassaden ziehen Touristen aber auch Hollywood-Regisseure wie Quentin Tarantino und Wes Anderson an. Die günstigen Mieten haben vor allem Rentner aus Westdeutschland angelockt.

Hoffnung auf gute Nachrichten

Was Görlitz dringend braucht, sind junge Menschen. Die Stadt lässt sie in den zahlreichen leerstehenden Häusern zur Probe wohnen. Dem Engagement des jetzigen Oberbürgermeisters ist es zu verdanken, dass sich Designer, Filmschaffende, Künstler aber auch Gründer von Start-ups in Görlitz angesiedelt haben. Viele davon sind Freunde und Unterstützer von Franziska Schubert. Doch die weiß: "Allein mit urbanen Hipstern lässt sich keine Wahl gewinnen."

Die größten Arbeitgeber in Görlitz sind immer noch Siemens und Bombardier. Drohende Werkschließungen versetzten die Stadt in der Vergangenheit in einen Schockzustand. Die Arbeitslosenquote liegt bei mehr als 13 Prozent. Höchststand in Sachsen. Gleichzeitig fehlen Fachkräfte. Deswegen lädt Franziska Schubert nicht nur zu europäischen Picknicks oder Frauenabenden ein. Sie besucht große und mittelständische Unternehmen in der Umgebung, trifft sich mit potenziellen Investoren. In der Hoffnung auf gute Nachrichten.

"VEB Kondensatorenwerk Görlitz" - der rostige Schriftzug an der Fassade der Ruine ist schon von weitem zu sehen. Zu DDR-Zeiten wurden hier Kondensatoren für Radios und Fernseher gefertigt. Ein Wiener hat die Fabrik nach der Wende gekauft in der Hoffnung auf ein gutes Geschäft. Mittlerweile ist ein Teil des Dachs eingestürzt, auf den Mauern wachsen dünne Bäumchen. Schubert streicht mit den Fingern über eine rostige Metallblume, die im Eingangstor eingelassen ist.

Zwei Männer machen Fotos mit ihren Handys. Sie kommen aus München und sind auf der Suche nach einem Ort, um den Prototyp eines Elektrofahrzeugs entwickeln zu lassen. Die Aussicht auf unbegrenzten Platz und Fördergelder haben sie nach Görlitz gelockt. Die Renovierung des alten Kondensatorenwerks wäre zwar sehr kostspielig. Doch Schuberts Gäste fangen an zu träumen. "Da unten könnte ein kleines Kaffee rein", sagt einer der Männer und zeigt auf den Durchgang. "Warum nicht auf dem Dach", sagt Schubert.

Die politische Konkurrenz äußert Sympathie

Sie nennt noch weitere potenzielle Objekte, ruft eine Bekannte bei der Wirtschaftsförderung der Stadt an, fragt Quadratmeterpreise für Industrieflächen ab. Die Münchner lächeln, als sie die Zahlen hören. Am Ende des Tages schreibt Schubert auf ihrer Facebookseite, sie sei mit "Vielleicht-in-Görlitz-Investoren" unterwegs gewesen, lädt ein paar Fotos hoch. Der Post bekommt 94 Likes. "Ein fantastischer, unermüdlicher Einsatz für Görlitz", schreibt ein Kommentator.

Doch wird er sich am Ende auszahlen?

Vorhersagen sind vor Kommunalwahlen schwierig. Anders als bei Landtagswahlen gibt es keine verlässlichen Prognosen. Doch wer sich in Görlitz umhört, der spürt besonders bei den Jungen Aufbruchstimmung. Viele Frauen unterstützen Schubert: "Es wird Zeit für eine Oberbürgermeisterin", finden sie.

Die politische Konkurrenz äußert Sympathie oder zumindest Respekt: "Sie hat Ideen", sagen Konservative. "Sie ist keine typische Grüne", sagt ein AfD-Anhänger. "Ich führe keinen ideologischen Kreuzzug", sagt Franziska Schubert. Sie ist erst 2014 in die Partei eingetreten. Fragt sie jemand nach dem Veggie-Day, sagt sie: "Ich bin die Tochter eines Fleischermeisters."

In Görlitz tritt Schubert nicht allein für ihre Partei an. Sie wird von einem breiten Bündnis aus Parteilosen unterstützt, die sich ebenfalls für die Stadtratswahl bewerben: Ingenieure, Ärztinnen, ein Polizist, Studenten, Rentner. Der Verein "Bürger für Görlitz" wurde 2014 zweitstärkste Kraft - damals noch mit einem Mann an der Spitze. 2019 ist der Wahlkampf auf die junge Politikerin zugeschnitten.

Wippel will Polizisten patroullieren lassen

Wenige Tage vor der Kommunalwahl haben ihre Unterstützer ein riesiges Banner aufgehängt. Es zeigt ein Foto von Schubert, hinter ihr eine Gruppe lächelnder Frauen. Schuberts Name steht da. Dazu der Slogan "Unsere Wahl" auf Deutsch und auf Polnisch. Das Banner hängt an der Fassade des Getreidespeichers. Dort wo die Altstadtbrücke Zgorzelec und Görlitz verbindet, Polen und Deutschland. Wo man nur wenige Schritte gehen muss, um auf die andere Seite zu gelangen. Ohne seinen Pass vorzuzeigen.

"Sichere Grenzen statt grenzenloser Kriminalität." So lautet der Wahlspruch von Sebastian Wippel. Ginge es nach ihm, würden auf der Altstadtbrücke künftig Polizisten patrouillieren und stichprobenartig Ausweise kontrollieren. Von Touristen, von Einheimischen. "Es kann jeden treffen."

Wippel sitzt für die AfD im Sächsischen Landtag. Zur Kommunalwahl soll er als Spitzenkandidat für die Partei den Sieg in Görlitz erringen. Die Europastadt an der Neiße ist auch Heimat des CDU-Politikers und sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer. Das macht sie für die AfD zur begehrten Trophäe. Alice Weidel war schon da, um Wippel im Wahlkampf zu unterstützen. Für die kommenden Tage hat sich Jörg Meuthen angekündigt.

Der Kandidat hat einen vollen Terminkalender: Infostand, Mittagessen im Mehrgenerationenhaus, Diskussionsrunde über deutsch-russische Beziehungen. Für das Gespräch hat er in sein Abgeordnetenbüro im Stadtzentrum geladen. Draußen haben Unbekannte rote Farbe gegen die Fenster gekippt. Drinnen sitzt Wippel am grauen Besprechungstisch. Er ist Jahrgang 1982, wie Franziska Schubert. Auch sonst gibt es interessante Parallelen:

Beide sind Christen, haben lange in Niedersachsen gelebt. Beide sind Rückkehrer. Beide sprechen von "Heimat".

Beide haben einen völlig unterschiedlichen Blick auf Görlitz.

"Die Stadt ist eine Perle", sagt Wippel. Gleichzeitig mache er sich Sorgen. Wegen der Arbeitslosigkeit, aber vor allem aufgrund der Sicherheitslage in der Stadt. Laut offizieller Statistik ist die Zahl der Straftaten in der Region auf einem neuen Tiefststand seit Öffnung der Grenzen Ende 2007. Besonders Einbrüche und Drogendelikte bleiben jedoch ein großes Problem.

Alles für Deutschland

Wippel kennt die Zahlen besser als jeder Laie. Er ist Polizeioberkommissar, arbeitet immer noch mehrere Stunden auf dem Görlitzer Revier. Wippel findet, man solle keine voreiligen Schlüsse aus der Statistik ziehen. Er beschreibt Görlitz als Stadt in Angst. Von Vergewaltigung ist die Rede. Von Jugendlichen, die Hundebesitzer anpöbeln, Schläge androhen. Neulich, so erzählt Wippel, sei einem Mann mit einer Gürteltasche ins Gesicht geschlagen worden, die mit einem Stein beschwert war. "Das erleben die Leute hier", sagt er. Im Zusammenhang mit den Tätern spricht er immer wieder von "Neueingewanderten". Fragt man Wippel nach seinem eigenen Sicherheitsgefühl sagt er: "Ich bin 1,90 Meter groß und kampfsporterprobt." Es klingt wie eine Drohung.

Die Leitlinien seiner Politik hat Wippel mal so zusammengefasst: "Richtig ist, was für Deutschland gut ist. Richtig ist, was für das deutsche Volk gut ist. Und was richtig ist, muss gemacht werden. Und ich werde es tun." In Görlitz setzt er sich für Grenzsicherung, mehr Polizei und Videoüberwachung ein. Er will den Mittelstand stärken und um Rückkehrer werben, nicht aber um Fachkräfte aus dem Ausland wie es derzeit die Stadt macht. Wippel forderte in der Vergangenheit sogar einen vorübergehenden Zuzugsstopp.

Wer gehört dazu, wer nicht?

Die Zahl der im Landkreis Görlitz lebenden Polen hat sich innerhalb der vergangenen fünf Jahre verdoppelt. Mehr als 5000 wohnen mittlerweile hier. Es gibt ein deutsch-polnisches soziokulturelles Zentrum, einen deutsch-polnischen Frauenverein, deutsch-polnische Schulpartnerschaften. Wippel, so fürchten seine Gegner, will trennen, was über Jahre in Görlitz zusammengewachsen ist.

Polen und Deutschland. Görlitz und Zgorzelec. Einheimische und Zugereiste. Wer gehört dazu, wer nicht? Das ist die zentrale Frage, die Wippel im Wahlkampf stellt. Die eigene Herkunft bestimmt aus seiner Sicht über die Eignung als Oberbürgermeister. "Ein Görlitzer. Mit Sicherheit", so wirbt er auf Plakaten für sich und seine Partei. "Görlitzer ist, wer hier geboren wurde", sagt Wippel. Nach dieser Definition wäre Franziska Schubert eine Fremde, genauso der Mitbewerber der CDU. Wippel nicht. Er ist in der Stadt aufgewachsen, trainierte im Turn- und Sportverein. Vielleicht ist das am Wahlsonntag egal - vielleicht aber auch nicht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4426637
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ.de/segi/cat
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.