GlosseDas Streiflicht

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Manche meinen, Rapper und deutsche Liedermacher kann man nicht verwechseln. Die haben aber die Rechnung ohne Haftbefehl und Reinhard Mey gemacht.

(SZ) Die in Bayern weltberühmte Band Widersacher aller Liedermacher weckt mit ihrem Namen die Vorstellung, hier seien megacoole Jungs am Werk, die der Singer-Songwriter-Branche die Hölle heiß machen. Gut so, denkt man als stets den Zeitgeist umschwänzelnder Avantgardist, diese Klampfenbarden sind ja mindestens so vorgestrig wie Friedrich Merz. Ihr friedensbewegtes Gesäusel, zwischendurch ein zaghaftes Hurra auf die zuverlässig ausbleibende Revolution, und dann die mit Sentimentalplüsch ausstaffierten Liebeslieder – das ist der Ton von Weicheiern. Höchste Zeit, dass die jemand in die Pfanne haut. Und wer wäre da besser geeignet als jene Sorte vor Rappern, die zu hammerharten Beats Gewalt verherrlichen und Frauen heruntermachen? Genau so stellt man sich die Widersacher aller Liedermacher vor: mit Goldketten behangene, volltätowierte Muskelprotze, die beim Minister Dobrindt Ausweisungsfantasien auslösen. Stimmt aber nicht. Phänotypisch ähneln die Widersacher eher der Liedermacher-Spezies, und in ihren Texten erklingt der Sound der Oberpfalz. Nein, das sind keine Gangsta-Rapper. Auf nichts kann man sich noch verlassen.

Halt, eines wenigstens ist gewiss: Liedermacher und Rapper leben in verschiedenen Welten. Wie sonderbar aber, was gerade in der Netflix-Doku über den Rapper Aykut Anhan alias Haftbefehl zu sehen war. Darin daddelt der Rapper, ein Virtuose der Hass-, Gewalt- und Beschimpfungslyrik, gezeichnet von Drogenkonsum und Depression auf dem Handy herum, bis auf einmal die Stimme des Liedermachers Reinhard Mey erklingt. „In meinem Garten“ singt er. Singt vom Rittersporn, der im Geröll wächst, vom Raben, der unter dem zerfallenen Dach nistet, von der Frau, die sich zu ihm verirrt hat. Und Haftbefehl singt mit. Die Stimme ist brüchig, und vielleicht sammelt sich eine Spur Wasser in seinen von einer Kutte verdeckten Augen. Seit diese Szene auf Netflix lief, sind die Haftbefehl-Fans im Ausnahmezustand. Sie hören jetzt unentwegt den melancholischen Song eines Liedermachers. Und der steht nun ganz weit oben in den Streaming-Charts.

Der Rittersporn in Reinhard Meys Lied verwelkt, als er den Garten zu pflegen beginnt; und der Rabe verschwindet, als er das Dach repariert. Jetzt fürchtet er, auch die Geliebte könnte sich davonmachen, seine Ruhe ist dahin. Noch aber ist sie da, und das lässt hoffen. So wie auch die Geschichte vom Rapper und dem Liedermacher ein Stück Hoffnung ist in einer Zeit, in der viele an der Menschheit verzweifeln. Wenn ein Lied aus einer fremden Welt so vertraut klingt, als käme es aus dem eigenen Kosmos, dann sind die Gräben vielleicht auch anderswo nicht unüberwindlich tief. Vielleicht steht man sogar auf derselben Seite. Davon träumen darf man zumindest – trotz alledem und alledem.

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