Glosse:Das Streiflicht

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Viele wissen noch nicht, wen sie wählen werden. Das macht nichts, denn Unentschlossenheit ist eine Tugend der Seele.

(SZ) Demoskopen sind ungefähr das, was früher die Eingeweidebeschauer waren. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass die Demoskopen glauben, ihre Arbeit beruhe auf wissenschaftlichen Grundlagen, wohingegen die Eingeweidebeschauer wussten, dass sie nach den Wegen der Götter forschten. Letztere sind zwar unergründlich, aber dennoch legen die aktuellen Eingeweidebeschauungen, also die Umfragen, nahe, dass es vier Wochen vor einer Bundestagswahl noch nie so viele Unentschlossene gab wie diesmal. Ein Unentschlossener m/w/d antwortet auf die Frage, welche Partei er wählen würde: „Weiß nicht“. Etwa ein Drittel der Wähler sind derzeit Weißnichts. Das mag damit zusammenhängen, dass viele Menschen dazu neigen, angesichts der zur Wahl stehenden Parteien mit der Bemerkung „weiß schon“ abzuwinken. Dasselbe gilt für die Kanzleraspiranten: Scholz ist ganz der Alte, Merz ist der neue Alte, Habeck ist immer noch politisches Yoga, Wagenknecht ist gerne im Fernsehen und Weidel betreibt Hitlerforschung.

Allerdings ist Unentschlossenheit in Zeiten der Überentschlossenheit keine so schlechte Geisteshaltung. Man muss gar nicht an den hyperentschlossenen Orangehäutigen jenseits des Atlantiks denken, um zu wissen, dass der alte Spruch „lieber eine falsche Entscheidung als gar keine Entscheidung“ ein dummer Spruch ist. Mit ihm rechtfertigen Generäle und Chefs jeder Art gerne ihre Fehler. Oft war die falsche Entscheidung eine schnelle Entscheidung. Klar, es gibt Situationen, in denen muss man schnell entscheiden. Das weiß jede Chirurgin und sogar jeder Autofahrer. Aus der Entschlossenheit aber eine Ideologie zu machen, führt in die Nähe jener Denkungsart, die mit dem Satz „mein Wille geschehe“ umschrieben werden könnte. Wer „handeln statt reden“ möchte, hat nicht verstanden, dass die Moral der Demokratie reden und handeln verlangt.

Unentschlossenheit ist geradezu eine Tugend der Seele. Wer sich in einer Sache nicht sicher ist, wird abwägen, sich informieren, nachdenken. Unentschlossene sind Freunde mehrgängiger Menüs („was nehme ich nur?“), lesen gern dicke Bücher, bearbeitet von unentschlossenen Lektorinnen, geraten nicht in die Gefahr, fanatische Anhänger von irgendwas zu werden. Unentschlossene sind manchmal traurig, weil sie so unentschlossen sind. Andererseits verspüren sie auch kaum das Bedürfnis, einen Hügel zu stürmen, bei dessen Sturm sie – natürlich nur metaphorisch – zugrunde gehen. Möglicherweise sind, was die Wahl betrifft, jetzt auch so viele unentschlossen, weil sie merken, dass viele der Entschlossenen, die zur Wahl stehen, in Wirklichkeit auch Unentschlossene sind. Die Ampel zum Beispiel ist nicht gerade wegen ihrer Entschlossenheit zu Bruch gegangen. Wohin, andererseits, verbale Entschlossenheit führt, sieht man an der Hitlerforscherin.

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