Süddeutsche Zeitung

Glosse:Das Streiflicht

Alle reden vom Stresstest. Dabei gäbe es die eine oder andere Möglichkeit, den Stress gar nicht zum Testfall werden zu lassen.

(SZ) Christian Wolff hat neulich gesagt, die Musik sei ein Stresstest für die Wirklichkeitstauglichkeit des Glaubens. Nun ist der Name Christian Wolff auch ein Stresstest für die Namensvergabe, denn er gehört dem berühmten Theologen und Prediger der deutschen Frühaufklärung genauso wie dem Darsteller des Försters Martin Rombach aus der Vorabendserie "Forsthaus Falkenau". Aber der Christian Wolff, der das mit dem Stresstest gesagt hat, ist der ehemalige Pfarrer der Thomaskirche in Leipzig, die vor einigen Hundert Jahren den legendären Kantor Bach dem Stresstest ausgesetzt hatte, dem Rat der Stadt Leipzig seine Vorstellungen von einer klangreinen Kirchenmusik verständlich zu machen. Der Stresstest ist ein Kind der Medizinersprache. Wenn Menschen, mit Elektroden versehen, anstrengende Bewegungen vollführen müssen und die Ärztin dabei zuschaut, wie sich der Körper nach und nach dem Ende seiner Möglichkeiten nähert, dann nennt man diesen unwürdigen, aber vermutlich lebensrettenden Vorgang Stresstest. Wenn die Musik von Bach ein Stresstest ist, dann heißt das eigentlich folgerichtig, dass man mit der Toccata die seelische Widerstandskraft eines Menschen bis zur Zerrüttung austestet - das kann eigentlich nicht gemeint sein.

Wenn man überall dort, wo man Wörter eingeben kann, das Wort Stresstest eingibt, hat man den Eindruck, es gebe kaum noch ein kulturelles oder politisches Ereignis, das etwas anderes darstellt als einen Stresstest. Ein lustiges Wort hat dieser Tage Alexander Graf Lambsdorff eingebracht, der demnächst deutscher Botschafter in Moskau werden soll. Aber jetzt geht es ja gerade mehr um chinesische Luftballons, und deshalb schlägt Lambsdorff vor, man solle einen China-Stresstest einführen. Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass man mit seiner fünfköpfigen Familie in ein chinesisches Restaurant geht und darauf besteht, dass auch die Zweijährige mit Stäbchen isst. Wenn der Wirt am Ende freundlich bleibt und dem Kind einen Luftballon über die auf dem Tisch verteilten Wan-Tan-Innereien reicht, hat China den Stresstest bestanden.

Wenn man in Deutschland oder in Berlin lebt, dann gerät einem jeder Schritt zu einer Art zivilisatorischem Stresstest. Eine Fahrt mit der Bahn wird zum Stresstest für die Geduld des Arbeitgebers, der drei geplatzte Geschäftstermine mit einem ernsten, gleichwohl letzten Gespräch unter vier Augen quittiert. Wer in Berlin sein Kind auf Teufel komm raus einschulen möchte, um es auf den Bildungsweg zu schicken, wird feststellen, dass sich dieser Bildungsweg im Glücksfall von Pankow nach Dahlem erstreckt. Das ist jeweils hin und zurück eine gute Stunde Fahrt mit der Berliner S-Bahn. Mit einem chinesischen Luftballon wäre man schneller dort und hätte eine schöne und stressfreie Sicht auf dieses verrückte Land.

Hinweis der Redaktion: In einer früheren Fassung dieses Textes hieß es, der ehemalige Pfarrer der Leipziger Thomaskirche, Christian Wolff, habe die Musik Bachs als einen "Stresstest für die Seele" bezeichnet. Er legt Wert auf die Feststellung, von einem "Stresstest für die Wirklichkeitstauglichkeit des Glaubens" gesprochen zu haben. Wir haben das im Text entsprechend berücksichtigt.

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