Süddeutsche Zeitung

Glosse:Das Streiflicht

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Die Reform als solche hat es in der Politik nicht leicht. Womöglich liegt ihr Glück in anderen Lebensbereichen?

(SZ) Der natürliche Lebensraum der Reform ist die Politik, nur wimmelt es dort leider von Feinden. Davon allerdings bekommt die Reform zunächst nichts mit, ihr Leben beginnt als Verheißung. Sie flirrt als Gerücht durch diese Welt, bis Journalisten schließlich schreiben, die Ministerin Soundso plane eine umfangreiche Reform, woraufhin wiederum die Ministerin noch einmal erhöht und sagt, sie wolle mehr als eine Reform, ja, sie wolle "ein großes Reformpaket schnüren". Noch lieber als der Weihnachtsmann schnüren nämlich Politiker immerzu Pakete, und sie werden dafür auch besser bezahlt als Postboten bei Amazon. Von da an aber wird die Luft für die Reform rasch dünn. Beeilt sich die Ministerin, wirft der Dings von der Opposition ihr Aktionismus und Reformeifer vor. Lässt sie sich Zeit, sagt derselbe Dings, die Soundso verschleppe die doch so dringend nötige Reform. So geht der Streit hin und her, bis sich am Ende mal wieder nichts geändert hat - das wird dann Reformmüdigkeit genannt.

So kriechen in der Politik alle möglichen Probleme sozusagen als Strukturkrustentiere vor sich hin und röcheln besorgniserregend, zum Beispiel das Wahlrecht, die Steuer, das Gesundheitswesen - aber wann immer auch nur eine kleine Reform mit sonnigem Gemüt des Weges kommt und fragt, na, kann ich dir helfen, mein Freund, wird sie verscheucht wie eine lästige Fliege. Gelegentlich begehen missmutige Blockierer sogar intellektuelle Leichenschändung und kapern einen Satz des Architekten Adolf Loos, um ihn der armen Reform hinterherzurufen: "Eine Veränderung, die keine Verbesserung ist, ist eine Verschlechterung." Die arme Reform fängt dann an zu weinen und fragt sich, ob sie denn gar keiner mag. Ganz aktuell darf man ihr antworten, doch, liebe Reform, du wirst geliebt, etwa von Lothar Matthäus, der der deutschen Nationalmannschaft soeben einen "großen Reformbedarf" attestierte.

Vielleicht wird man generell feststellen, dass die Reform sich zunehmend Freunde außerhalb der Politik sucht, wenn sie von dieser weiterhin so mies behandelt wird. Vorstellbar ist das zum Beispiel in der Familie, wo es als notorisch klammes Kind bald ratsam sein könnte, nicht mit aufgehaltener Hand vor die Eltern zu treten und schlicht mehr Taschengeld zu fordern - sondern stattdessen beiläufig, vielleicht beim Abendbrot, eine umfassende Reform des Kleinbürgergeldes anzuregen. Und vorstellbar ist das eben auch in der Fußballnationalmannschaft, deren Zukunft auch davon abhängt, ob jetzt wirklich etwas verändert wird oder nur ein neuer Hashtag kommt, den man auf den Bus kleben kann. Vergraulen sollte man die Reform jedenfalls nicht aus allen Lebensbereichen, denn - und auch das war schon immer so: - Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit.

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