Glosse:Das Streiflicht

(SZ) So, wieder ist der Muttertag vorüber, und viele Mütter sind erneut ohne Blumenstrauß verblieben. So war es immer, so wird es immer sein, dass Kölns Kardinal Woelki am Sonntag allen Eltern dankte, kann diese Lücke nicht füllen. Woelki hat sich halt in Sachen Sensibilität und Herzensgüte weit über die Kirche hinaus einen Namen gemacht. Jedenfalls, soziokulturell betrachtet kennt die Gesellschaftstheorie mehrere Deutungsmuster des Muttertags, deren erstes, marxistisch angehauchtes lautet: Die Blumenbranche hat 1914 den Muttertag zum Zweck der Gewinnmaximierung erfunden, natürlich in den USA. Der Mutter zu diesem Datum keinen Strauß zu überreichen und sie auch nicht anzurufen oder zu besuchen, ist also ein Akt des Widerstandes gegen die Ketten, mit denen der Kapitalismus uns zu fesseln trachtet. Eine zweite, zeitgemäßere Theorie geht dahin, das Patriarchat habe, mithilfe der Blumen-Trusts, den Muttertag ersonnen als Tat vorgeblicher Dankbarkeit, mit deren Hilfe es alle Bestrebungen, die Männer gleichermaßen oder überhaupt erst an Haushalt und Erziehung zu beteiligen, delegitimieren will. Auch hier verbietet sich selbstverständlich jedes Lebenszeichen an die Blumen erhoffende Mutter.

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