Süddeutsche Zeitung

Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Die Weise, wie jemand redet, war früher nur insofern von Relevanz, als man glaubte, durch sie Rückschlüsse auf den Charakter des Redners ziehen zu können. Sprach einer leise, stand er womöglich nicht hinter dem, was er sagte. Nuschelte jemand, nahm ihn kaum einer ernst. Kam seine Rede dagegen hastig daher, so ging er einem schnell auf die Nerven, und sofern er irgendetwas verlangte und dies hastig vortrug, willfahrte man dem Hastigen, um schnell seine Ruhe zu haben. Die FAZ berichtet, dass der kürzlich gestorbene Rolf Hochhuth in dieser Weise mit Redaktionen verfahren sei, von denen er etwas wollte. Indem er seine Vorstellungen hastig vortrug, kamen die Redakteure schnell an den Punkt, von dem aus die Aussicht, weiter Adressat der unablässigen Rede sein zu müssen, kurzerhand gegen die Möglichkeit abgewogen werden musste, durch ein knappes "Ja, ist gut, machen wir" Ruhe zu haben.

Heute ist es ja so, dass die beste Art zu reden von den Virologen gekürt wird. Wer laut und deutlich spricht, überträgt Viren, wer nuschelt, eher nicht. Wer aber gehetzt spricht, was tut der? Zischt er in Pfeilschnelle und großer Zahl Viren in den Raum? Oder vermindert sich deren Zahl, weil er ja schnell fertig ist, da er seine Worte praktisch übereinanderstolpern lässt? Andererseits: Wenn Worte übereinanderpurzeln, wahren sie nicht den nötigen Abstand voneinander. Worte tragen auch keinen Mundschutz, ach, es ist doch ziemlich verhext mit dem Reden und Redenlassen. Ein Rückblick in die Zeit der Spätaufklärung hilft nicht in jeder Lebenslage, aber in diesem Fall ließe sich die "Anleitung zur Amtsberedsamkeit der öffentlichen Religionslehrer des 19ten Jahrhunderts" von Johann Otto Thieß, dem fleißigen Theologen und Sokratiker aus Kiel, gewinnbringend heranziehen. Natürlich sollte der Prediger, sagt Thieß, wie im "gemeinen Leben" sprechen, es sollte also "kein hastiger Redner-, kein schleppender Kanzelton" rüberkommen. Also lieber irgendetwas dazwischen, aber das muss schon ein sehr ausgeglichener und disziplinierter Redner sein, der immer den richtigen Ton trifft und vor allem: durchhält.

Vor einigen Jahren legte der Linguist Uriel Cohen Priva eine Studie vor, nach der Menschen, die hastig reden, viel Wortmaterial in die Welt werfen. Aber das Zeug taugt nichts. Es steckt sehr wenig Information in all den über Kopf und über Kreuz purzelnden Sätzen. Wer dagegen langsam spricht, liefert der Welt komplexere Botschaften, muss aber damit rechnen, dass der Empfänger länger Zeit hat, darüber nachzudenken und ihm, sofern er etwas verlangt, dann sagt: Nein. Wie macht man es richtig? Von Karl Lagerfeld weiß man, dass er oft Tage in seinem Pariser Stadtpalais verbrachte, ohne ein Wort zu sprechen. Kam er unter Leute, redete er so hastig, dass er manchmal vergaß, sich den Fächer vor den Mund zu halten.

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SZ vom 16.05.2020
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