Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Die Sehnsucht, jenes alte, kulturell hochaufgeladene deutsche Gefühl, erlebt in diesen Tagen, Wochen, womöglich Monaten eine Renaissance - oder wie der Philosoph Timo Reuter der Katholischen Nachrichten-Agentur sagt: ein Revival. "Revival" klingt ein wenig energetischer als die Renaissance, bei der wir immer daran denken müssen, dass ihr babyfrischer Glanz ja aus dem Elend der Pest entstanden ist. Unsere Sehnsucht, so Timo Reuter weiter, hat in vorderster Linie den Sommerurlaub zum Gegenstand. Wir wünschen uns dorthin, wo wir gebucht haben, könnte man sagen, sofern man das Gefühlige mit ein wenig Pragmatismus strecken möchte. Natürlich haben wir für Juli, August oder September 2020 gebucht, aber unsere Sehnsucht könnte auch eine Zwangserweiterung auf das Jahr 2021 erfahren, wenn es blöd läuft. Die Sehnsucht bezeichnet von jeher den Wunsch, körperlich oder gedanklich von hier nach dort respektive von mir zu dir zu gelangen. Da liegt Timo Reuter philosophisch auf der Zielgeraden zu Platon, dessen "Gastmahl" wir uns jetzt mal wieder vorlegen lassen, um darin die eigentlich sehr lustige Rede des Aristophanes über die Kugelmenschen zu lesen. Die Menschen, sagt Aristophanes, seien nämlich von Haus aus kugelförmig gewesen, "indem Rücken und Seiten im Kreis herumliefen, und ein jeder hatte vier Hände und ebenso viele Füße". Selbstverständlich wird man in solcher Gestalt übermütig und blöd und hält sich den Göttern für ebenbürtig. Aber die Götter hatten bekanntlich einen zupackenden Chef, Zeus, der daraufhin beschloss, jeden Kugelmenschen in zwei Hälften zu zerschneiden. Zeus erhoffte sich einen höheren Nutzwert, weil die Menschen mit der Teilung einerseits schwächer und anderseits nützlicher würden, weil dadurch ihre Zahl vergrößert wird. Heute würde Zeus dafür von Christian Drosten abgemahnt, weil mehr Menschen natürlich auch mehr Ansteckung bedeuten.

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