Süddeutsche Zeitung

Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Die Sprache der Algonquin- und der Powhatan-Indianer ist ein weites, aber hierzulande wenig bekanntes Feld. Kaum jemand weiß, dass sie zu den polysynthetischen Sprachen gehört, die sich durch eine ebenso komplizierte wie reichhaltige Verbalmorphologie auszeichnen. So zum Beispiel wird "ich sehe ihn" auf Ojibwe - das ist eine Unterart dieser großen Sprachfamilie - mit "n-waabm-aa" übersetzt, "er sieht mich" hingegen mit "n-waabm-ig". Was die Indianer, und wir mit ihnen, nicht sehen können, ist der 6,5 Milliarden Kilometer entfernte Himmelskörper "Ultima Thule", der seinerseits auch uns nicht oder nur undeutlich sehen dürfte. Dafür hat er jetzt eine nagelneue sprachliche Anbindung an die Erde bekommen: Auf Betreiben der US-Raumfahrtbehörde Nasa heißt er nicht mehr "Ultima Thule", sondern "Arrokoth", was in der erwähnten Sprache "Himmel" bedeutet - ein Name, wie gemacht für so einen Himmelskörper.

Nun war freilich auch "Thule" respektive "Ultima Thule" in sachlicher Hinsicht keine direkte Fehlbenennung. Seit dem antiken Weltenbummler Pytheas von Massalia, der die erste, allerdings noch recht dunkle Kunde von Thule heimbrachte, verstand man darunter das nördlichste und damit äußerste Ende der bewohnten Erde, eine Gegend, die man heute möglicherweise mit "jwd" umschreiben würde, wenn nicht gar mit "Arsch der Welt". Derlei zu einem Himmelskörper zu sagen verbietet sich natürlich, auch wenn er, wie dieser, nur die Kleinplanetennummer 486958 zugewiesen bekommen hat. Dass er aber thulemäßig weit weg ist, wird niemand bestreiten. Die Umbenennung ist darauf zurückzuführen, dass zu den Wegbereitern, Büchsenspannern und Ohrenbläsern der Nationalsozialisten die obskure "Thule-Gesellschaft" gehört hatte. Damit ist das Wort Thule seiner ursprünglich geografischen Unschuld beraubt, und die Nasa lässt es dafür büßen, ein kurioser Beleg dafür, dass die Nazis zwar nicht die Welt erobern und unter ihr Joch bringen konnten, in einer 6,5 Milliarden Kilometer entfernten Ödnis, wo Weltraumfuchs und -hase sich Gute Nacht sagen, aber immer noch ihre Pfoten auf Wörtern und Begriffen haben.

Näher als das Universum liegt uns eines der schönsten Gedichte, nämlich Goethes "König in Thule", der von seiner ihm nicht nur reimtechnisch eng verbundenen "Buhle" einen goldenen Becher bekommt und daraus trinkt, bis es mit ihm zu Ende geht. Da trinkt er ein letztes Mal und wirft dann "den heiligen Becher" in die Flut. Das poetische Königreich Thule hat sich bisher halten können. Sollte es je zu einer Umbenennung kommen, möchten wir den Dichter sehen, der anstelle von Thule ein auf Buhle passendes Reimwort findet. Der Asteroid Arrokoth aber zieht derweil seiner ewigen Wege, und wir rufen ihm ein "Mani wastete yo" nach. In der Sprache der Lakota heißt das "Glück auf deinem Weg".

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Quelle:
SZ vom 15.11.2019
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