Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Wäre Kant noch am Leben, er würde nicht fragen: "Was kann ich wissen?" oder "Was soll ich tun?" Nein, der Mann würde nicht lang rumeiern, sondern sich auf eine einzige Frage konzentrieren: Was soll ich posten? Wäre Kant nämlich noch am Leben, wäre er kein Philosoph geworden, der viel zu lange Bücher schreibt, die leider kein Vernünftiger liest. Er wäre Influencer und immer auf der Suche nach dem nächsten Knall, dem nächsten Bild, der nächsten Nichterkenntnis. Natürlich wäre es ihm ein Leichtes, schon am Morgen ein paar Tausend Herzchen einzusammeln, doch mit simplen Genres wie der Essensfotografie hielte er sich nicht auf; das kann ja jeder, der sieben Euro für einen Filterkaffee und 23 Euro für einen hawaiianischen Fischsalat übrig hat. Was hingegen nicht jeder kann: ein Sebastian-Fitzek-Buch, einen derangierten Reisepass und ein Flugticket nach Georgien instagramtauglich auf dem Boconcept-Sofa arrangieren und maximal verschlüsselte Hashtags dazustellen: #derjungemannunddasmehr, #ichfliegdannmalweg, #nachdiktatverreist. Auf der Reise geht das so weiter, morgens, mittags, nachts im Suff: ein nie gesehenes Bergpanorama, ein Selfie mit dem Hotelpagen, und vielleicht findet sich noch ein hübscher Mülleimer für ein Hüpfbild.

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