Süddeutsche Zeitung

Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Nach Kapitel 2 Punkt 1.7 des Statistischen Jahrbuchs für die Bundesrepublik Deutschland gibt es derzeit 11 092 Kommunen. Demzufolge gibt es auch 11 092 Weihnachts-/Christkindlmärkte. Für diesen Wert findet sich kein Beleg, aber wenn man der empirischen Kraft des Augenscheins trauen darf, stimmt er, und wer dagegen einwendet, dass er sehr wohl eine Gemeinde ohne Weihnachtsmarkt kenne, sei daran erinnert, dass die größeren Städte dafür gleich mehrere Weihnachtsmärkte haben. Apropos "ohne": Sucht man im Netz nach "ort ohne weihnachtsmarkt", wird man unverzüglich zur Webseite der Gemeinde Ohne geleitet. In Ohne, wo laut Slogan "jeder jemand ist", scheint es tatsächlich keinen Weihnachtsmarkt zu geben. Da Ohne jedoch zur Samtgemeinde Schüttorf gehört, gilt der dortige Weihnachtsmarkt auch für den Ortsteil Ohne. Er war schon am 26. und 27. November, an Getränken wurden Glühwein, heiße Schokolade mit und ohne Schuss, Apfelpunsch und heißer Hugo gereicht.

In bestimmten Kreisen gehört es zum guten Ton, sich über die Weihnachtsmärkte lustig zu machen, sie als Zerrbilder vorweihnachtlicher Erwartung zu geißeln und den Glühwein und die Zimtsterne mit feinschmeckerischem Hass zu verfolgen. Dessen ungeachtet halten es laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov 62 Prozent der Deutschen für unumgänglich, einen Weihnachtsmarkt zu besuchen. Der Augenschein bestätigt auch dies. Mehr noch, er lässt den Schluss zu, dass in der Adventszeit alle Deutschen auf allen Weihnachtsmärkten unterwegs sind, und zwar dergestalt, dass eine Art von binnenländischer friedlicher Reihum-Völkerwanderung stattfindet. Grund dafür ist der Standardsatz: "Also, die in X-dorf sollen ja einen fantastischen Christkindlmarkt haben." Diese Einschätzung hat zur Folge, dass sich die Bewohner von Y-berg nach X-dorf verfügen, was den X-dorfern den willkommenen Grund gibt, ihrerseits den anerkannt fantastischen Markt in Z-heim aufzusuchen. So drehen sich die Bevölkerungsgruppen von Ort zu Ort, von Weihnachtsmarkt zu Weihnachtsmarkt - mit dem Effekt, dass sie vom eigenen Markt als einzigem keine Ahnung haben und völlig ungeniert über den dort erhältlichen Glühwein herziehen können.

Eine gewisse Ödnis ist diesem alljährlichen Ritual nicht abzusprechen. Der Bundesinnenminister wäre gut beraten, wenn er etwas Pfeffer hineinbrächte, beispielsweise indem er den Ringelreihen mit dem Spiel "Die Reise nach Jerusalem" verbände. Bedingung wäre eine Verordnung, nach der die Anzahl der Weihnachtsmärkte immer um einen unter der Anzahl der Kommunen liegen müsse. Auf "Kling, Glöckchen, klingelingeling" würden alle losrennen, und wer ohne Weihnachtsmarkt bliebe, müsste die anderen bis Heiligabend mit Punsch und heißem Hugo freihalten.

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SZ vom 07.12.2016
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