Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Nur Eingeweihte wussten, nein, wenn man ehrlich sein will, muss man wohl sagen: Nur Siegfried Lenz selber war es bewusst, welch einen Schatz er im Gepäck hatte, als er ein halbes Jahr vor seinem Ableben nach Marbach fuhr, um im dortigen Literaturarchiv seinen Nachlass abzugeben. Genau genommen handelte es sich seinerzeit um einen Vorlass, denn der bei Leserschaft und Kritik gleichermaßen beliebte Autor lebte ja noch. Dass Autoren ihr Gedöns an Archive abgeben, ist eigentlich nichts Besonderes. Man weiß halt manchmal nicht, wo man den streckenweise auch eher unerfreulichen Briefwechsel mit Peter Handke zu Hause auf Dauer unterbringen soll; und die zwei Regalreihen mit Widmungsexemplaren von Grass, Walser und Rühmkorf sehen neben dem neuen Ligne-Roset-Sofa so unerfreulich retro aus. Also raus damit und in die verständigen Hände der Archivare gegeben, die selbst aus der banalsten Beiläufigkeit eine literaturhistorische Trouvaille zaubern können. Schwer zu sagen, ob Siegfried Lenz ebenfalls von derartigen innenarchitektonischen Erwägungen geleitet wurde; sicher ist jedenfalls: Er hat seinem Konvolut einen bislang unveröffentlichten Roman beigelegt: Der "Überläufer" ist jetzt als Sensation herausgekommen, sogar früher als geplant, so als ließe sich mit einem vorgezogenen Erscheinungstermin seine sechzigjährige Verspätung irgendwie wettmachen.

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