Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Von nichts kommt nichts. Dieser Satz gilt auch in der Philosophie, und wer es nicht glaubt, muss nur einmal in Immanuel Kants "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" hineinschauen. Darin ist unter anderem von der Einbildungskraft die Rede, die Kant als "große Künstlerin, ja Zauberin" sehr schätzt, der er aber attestiert, dass sie nicht schöpferisch sei. Man könne sie jedoch zur Produktivität ermuntern, indem man Gegorenes zu sich nehme, also Wein, Bier und dergleichen. Kant zeigt sich an dieser Stelle als der Kenner, den man in ihm nicht vermutet hätte. Den Wein hält er für "bloß reizend", wohingegen er vom Bier sagt, es sei "mehr nährend und gleich einer Speise sättigend". Beide dienten sie "zur geselligen Berauschung, wobei doch der Unterschied ist, dass die Trinkgelage mit dem letzteren mehr träumerisch verschlossen, oft auch ungeschliffen, die aber mit dem ersteren fröhlich, laut und mit Witz redselig sind". Arthur Schopenhauer kennt sich in der Materie ebenfalls aus. In seiner "Preisschrift über die Freiheit des Willens" sagt er vom Rausch, dass er "die Lebhaftigkeit der anschaulichen Vorstellungen erhöht, das Denken in abstracto dagegen schwächt".

Dies als Hintergrund und Kulisse, aus der nun Richard David Precht hervortritt, der Paganini - andere sagen: André Rieu - der zeitgenössischen Philosophie. Da ihm das Philosophieren und, mehr noch, das Reden darüber leicht von der Hand geht, ist er den Feuilletons suspekt, und daran wird sich so schnell nichts ändern. Eben hat er dem Kölner Stadt-Anzeiger gesteckt, dass er zur Inspiration beim Schreiben hin und wieder ein Glas Rotwein trinke; das sei förderlich "für das Lustgefühl beim Schreiben, die Suche nach der pfiffigen Überschrift, den originellen Einstieg". Setzt Precht damit die Linie Kant/Schopenhauer fort? Er tut das insofern, als er aufgreift, dass es beim Wein fröhlich hergeht und die Lebhaftigkeit der Vorstellung erhöht wird. Seine Gegner werden freilich die Kehrseite der Medaille vorzeigen und fragen, wie es bei Precht nach dem Rotwein mit dem Denken in abstracto aussehe, und wenn sie völlig boshaft sind, deuten sie seinen Erfolgstitel "Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?" als Beleg dafür, dass er sich selbst möglicherweise doppelt gesehen hat.

Originell ist Precht nicht nur als Denker, sondern auch als Beobachter. Beim Kollegen Sokrates würde er, den Porträtbüsten nach zu urteilen, "glatt auf einen Säufer tippen". Ob das historisch haltbar ist, darf genauso bezweifelt werden wie die Behauptung des Rhetorikers M. Cornelius Fronto, dass der Philosoph Chrysippos 365 Tage im Jahr betrunken gewesen sei. Was man von Chrysipp besser weiß, sind die Umstände seines Todes. Als ein Esel die für ihn bestimmten Feigen fraß, riet er, dem Tier dazu Wein zu reichen. Das fand er so witzig, dass er sich zu Tode lachte. Möge heutigen Philosophen derlei erspart bleiben!

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