Süddeutsche Zeitung

Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Das Streiflicht ist eine Art journalistische Flaschenpost. Direkt daneben der reißende Nachrichtenstrom, Analysen, Leitartikel, Appelle, de Maizière müsste längst, VW darf nie wieder, wann wusste Beckenbauer? Hier, in diesem schmalen, ruhigen Nebenarm hingegen setzen wir nachmittags eine kleine, stille Botschaft aus, einen Gruß an all die gestressten Leserinnen und Leser, deren Arbeitsleben ja mittlerweile selbst einem hektischen Newsroom gleicht: Mails prasseln, Postfach quillt, jeder will Antwort und zwar sofort. Liken, löschen, weiterleiten. Zwischendrin schrillt noch das Handy, und bei den Älteren setzt im Hintergrund das Faxgerät mit seinem frühindustriellen Soundtrack aus Rattern und Quietschen ein. Sensiblere Gemüter ergreifen regelmäßig die Flucht vor diesen Zumutungen der postmodernen Kommunikation. Die gerissenen unter ihnen schreiben Ratgeber über Entschleunigung, die anderen rennen einfach nur in der Mittagspause runter an den Fluss, das angegriffene Nervenkostüm wallt schlotternd um ihre Seele; sie schauen raus aufs Wasser und denken: Verdammt, angeblich ist doch das Leben ein langer ruhiger Fluss, warum ist meines nur ein winziger nervöser Whirlpool? Am Ufer aber sehen sie einen Mann seines Weges gehen. Das muss Joachim Römer sein.

Römer ist Künstler. 1997 wandelte er am Rhein entlang, alles war mal wieder zu viel, da sah er zwischen den Ufersteinen etwas Glänzendes stecken. Eine Flaschenpost! Steckte da fest in Stein und Zeit. Römer las sie auf und war gerührt: Eine Botschaft, die jemand einfach so losgeschickt hatte, ohne einen bestimmten Adressaten im Sinn zu haben. Was da genau drinstand? Egal. Schließlich ist an der Flaschenpost nie die Botschaft entscheidend, sondern die jeweils mitversiegelte Zeit. Die Flasche wird losgeschickt mit dem Wunsch, sie solle möglichst lang möglichst weit treideln, ein Wunsch, der erstaunlich viele Menschen zur Flasche greifen lässt: Joachim Römer behauptet, seit seinem ersten Fund vor 18 Jahren habe er 1600 Dosen, Kanister und Flaschen aus dem Rhein gefischt, die jeweils eine Botschaft enthielten. Jetzt stellt er seine Römer-Briefe aus, im Duisburger Museum für Binnenschifffahrt. Römer glaubt, dass diese verkorkten Briefe ein sanftes Antidot zu unserer hektischen Posterei sind: "Die moderne Kommunikation ist für die Nerven anstrengend. Sie lässt wenig Raum für Sehnsucht."

Wir wollten, passend zum Anlass, dieses Streiflicht eigentlich handverkorkt in die Welt entlassen. Vielleicht wäre es eines Tages an den Gestaden Ihres Briefkastens angelandet. Vielleicht aber auch nicht. Dann hätte es Beschwerden gehagelt, viele Mails, Briefe und Faxe. Also schicken wir es nervenschonend. Wenn Sie es aber ausschneiden und in den Rhein werfen, findet es vielleicht eines Tages Herr Römer.

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Quelle:
SZ vom 14.11.2015
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