Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Der große Wolf Biermann erzählte einmal einem Journalisten, dass er sich zweimal im Leben den Schnurrbart abrasiert habe. Das erste Mal sei es aus Sicherheitsgründen im August 1968 geschehen, als russische Panzer in Prag einfuhren und die Hoffnung auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz zunichte machten. Damals habe er, Biermann, entschieden, sein eigenes menschliches Antlitz durch Entfernen des Schnurrbarts dergestalt zu verändern, dass ihn die Beamten der Staatssicherheit nicht erkennen. Auf den zweiten Eingriff Biermanns in seine eigene Schnurrbart-Souveränität werden wir später zu sprechen kommen. Warum? Weil ein im Augenblick dringlicherer Schnurrbart-Fall ansteht, der die Aufmerksamkeit der Welt beansprucht, denn es ist noch Zeit genug, das Schlimmste zu verhindern. Nun aber Schluss mit dem Andeutungsgefasel, denn der Schnurrbart des Präsidenten von Venezuela, die Moustache von Nicolàs Maduro, ist in Gefahr! Wenn sein Sozialprogramm gegen Ende des Jahres nicht greift, so hat es Maduro selbst verkündet, muss der Bart verschwinden.

Wäre man Nachrichtensprecher, müsste man sagen: Maduro hat sein politisches Schicksal mit seinem Schnurrbart verknüpft. Sollten er und seine sozialistische Regierung es nicht schaffen, bis Ende September die einmillionste Sozialwohnung in Venezuela anbieten zu können, dann, ja wir wissen, was dann geschehen wird. Warum - die Frage ist überfällig -, warum bedeutet manchen Männern der Schnurrbart so unfassbar viel? Weshalb lässt sein Verschwinden mehr Trostlosigkeit zurück als die Entfernung eines Vollbarts? Die Antwort lautet: Weil er ein Alleinstellungsmerkmal darstellt. Im Schnurrbart ist die psychologische Textur des Mannes gespeichert. Stolz und Komplex, Übermut und Angst sind in ihm wie nervöse Mikrotierchen zu Hause. Die Entscheidung, sich einen Schnurrbart wachsen zu lassen, resultiert gelegentlich aus einem Mangelempfinden heraus. Günter Grass erzählt in seinem Roman "Beim Häuten der Zwiebel", er habe sich zum Schnurrbart entschlossen, weil ihn sein vorspringender Unterkiefer beschämt habe und der Bart harmonisierende Wirkung versprach.

Der Schnurrbart vereinigt Keckheit und Kühnheit wie kein anderes männliches Schaustück. Ist er ab, muss sein ehemaliger Träger ebenfalls abtreten. Steht die einmillionste Wohnung nicht, muss sich Maduro die Blöße geben und wird - Auguren, aufgepasst! - sehr bald seinem Schnurrbart sein politisches Amt folgen lassen. Obwohl: Wolf Biermann rasierte sich in den Achtzigerjahren den Schnurrbart ein zweites Mal ab, um seine Frau zu ärgern. Sie habe es aber kaum bemerkt, die anderen Menschen bemerkten es auch nicht. Also: Wenn es gut läuft, ist den Venezolanern einfach schnurz, was Maduro mit seinem Bart macht.

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