Süddeutsche Zeitung

Glosse:Das Streiflicht

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(SZ) Der Film "Winnetou II" ist keine Komödie, aber lustig geht es darin schon zu. Gleich am Anfang steht Winnetou (Pierre Brice) vor der Aufgabe, Ribanna (Karin Dor), die Tochter Tah-Sha-Tungas (Rikard Brzeska), vor einem Bären zu retten. Da dieser von Zirkusdirektor Rudi Althoff gespielt wird, kommt es zu einer gelungenen Balgerei, und wie nicht anders zu erwarten, löst Winnetou das Problem am Ende mit ein paar sauber platzierten Messerstichen. Zum Glück für Rudi Althoff wusste Pierre Brice das nicht, was der Jäger Chase Dellwo einst von seiner Großmutter erfahren hatte: dass Grizzlybären einen ausgeprägten Würgereflex haben. Wer weiß, ob ihm Winnetou sonst nicht den Arm in den Rachen gerammt hätte, so wie Dellwo es tat, als sich ihm in den Rocky Mountains ein Grizzly in den Weg stellte. Das Rezept der Großmutter bewährte sich: Der Bär würgte und ging beleidigt seines Weges.

Beleidigt wäre auch Karl May gewesen, wenn er das gelesen hätte. Sein Old Shatterhand legte Wert darauf, den Grizzly im fairen Kampf zu besiegen. Der erste dieser Kämpfe verlief so: Als der Bär und Shatterhand sich trafen, war das Gewehr dummerweise nicht geladen, und der Kolben zersplitterte am Schädel des Bären "wie Glas". Daraufhin schoss unser Mann dem Untier mit dem Revolver die Augen aus, den Rest erledigte er mit dem Bowiemesser. Fair war das nicht, aber der Grizzly hatte sich schließlich auch nicht an die Regeln gehalten, sondern vorher einen Westmann zerfleischt. Karl May war von derlei Taten so begeistert, dass Realität und Fiktion für ihn eins wurden und er bei öffentlichen Auftritten Narben zeigte, die er im Ringen mit Grizzlys erworben haben wollte. Hätte er ähnliches Staunen erregt, wenn er über den Würgereflex referiert hätte?

Die Weidgerechtigkeit ist das eine, die schöne Story das andere. Dieser Zwiespalt kennzeichnet schon den Umgang der Menschen mit den Drachen, deren Pech darin bestand, dass sie zwar auch Geschöpfe Gottes waren, als Repräsentanten des Chaos aber vernichtet werden mussten, auf dass der geordnete Kosmos sich entwickeln konnte. Die Überlieferung strotzt von Helden, die in schwerer Rüstung gegen die Ungetüme antraten und sie mit Spieß und Schwert vernichteten. Die Frage nach allfälligen Würgereflexen stellte sich ihnen nicht, erstens weil das gegen die ritterliche Ehre gegangen wäre, zweitens weil die Drachen meistens Feuer spuckten, ihr Rachen also dem beherzten Armstoß gar nicht zugänglich war. Einer der witzigsten Drachenkämpfe fand im Basiliskenhaus in der Wiener Schönlaterngasse statt. Dort hauste ein Basilisk, dessen Blick jedes Lebewesen zu Stein erstarren ließ. Genau hier setzte ein Bäckersbub an: Er hielt dem Vieh einen Spiegel vor, sodass es selbst zu Stein wurde. Ob Grizzlys vor ihrem Spiegelbild weglaufen? Möglich, doch welcher Jäger hat schon einen Spiegel dabei?

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Quelle:
SZ vom 08.10.2015
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