Glosse:Das Streiflicht

(SZ) Von der Öffentlichkeit unbemerkt präsentiert die Stadt Berlin seit Jahren ein radikales Kunstprojekt. Es geht um den "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny", also um jene Oper, für die Kurt Weill und Bertolt Brecht einst in unnötiger Bescheidenheit nur zweieinhalb Stunden ansetzten. Berlin inszeniert das Werk nun realiter und in Echtzeit, überall in der Stadt. Wann genau die Aufführung vorbei sein wird, weiß natürlich niemand, nur so viel zum Fortgang: Der beißende Fallwind des Untergangs weht schon an jeder zweiten Ecke. Im Ensemble brillierte bislang Margot Käßmann, mit ihrem mahnenden Zwischenruf, nichts sei gut in Berlin. Nun ruhen alle Erwartungen auf dem Regierenden Bürgermeister, der mit Leibeskräften die Deckenbalken festhalten muss, bis dann in ein paar Jahren alles endgültig in den Keller rauscht. Früher versprach Berlin Erlösung für alle; es ersetzte den Alltag durch Abenteuer, und selbst an trüben Tagen gab es wenigstens ein billiges Glas Wein auf irgendeiner Soli-Party.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: