Globalisierungskritiker:Wie Attac wieder in Schwung kommen will

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Attac-Europakongress in Kassel (Foto: Picasa; Attac Deutschland)

Früher galt Attac als globalisierungskritische Avantgarde. Heute dümpelt die Organisation vor sich hin. Kann sie ihre Probleme lösen? Eine Spurensuche beim Europakongress.

Von Jana Anzlinger, Kassel

Dem Bullen und dem Bären sind Ringe durch die Schnauzen getrieben worden. Angeleint an den Nasenringen ziehen zwei kleine Menschen die riesigen Tiere hinter sich her. Das Volk muss die Börse steuern und nicht umgekehrt, soll das Bild auf dem Banner sagen, das an der Hörsaalwand hängt. Vorne vor der Tafel fordert ein russischer Soziologe das Ende des Neoliberalismus und ein griechischer Ökonom die Auflösung der EU.

Unter den Börsensymbolen Bär und Bulle hängt ein orangefarbenes Banner. Darauf bilden eine Linie und zwei Erdkugeln ein weißes Prozentzeichen. Das Logo von Attac. Die Organisation veranstaltet an der Universität Kassel einen Kongress zur Weiterbildung ihrer Mitglieder. Das Motto: "Ein anderes Europa ist möglich." Bis auf die Banner erinnert wenig an den aufmüpfigen Haufen von Globalisierungskritikern, der Attac einmal war.

Heute landet Attac nur mehr wegen seines Rechtsstreits im Fernsehen

Was passiert morgen mit Parolen, die heute bei Demos skandiert werden? Was wird gesagt, wenn endlich jemand zuhört? Attac ist ein Beispiel dafür, wie sich soziale Bewegungen entwickeln, die weder scheitern noch so richtig Erfolg haben.

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Viele Menschen verbinden das Netzwerk mit den Fernsehbildern der G-8-Gipfel von 2001 und 2007. Der deutsche Ableger hatte die Proteste gegen die Treffen in Genua und Heiligendamm mitorganisiert.

Heute landet Attac nur mehr wegen seines Rechtsstreits mit den Finanzbehörden im Fernsehen. Sie haben dem eingetragenen Verein die Gemeinnützigkeit aberkannt, weil er politische Ziele verfolgt.

"Wir haben ein Problem. Wir müssen über die fehlende Gemeinnützigkeit sprechen und überlegen, wie wir wieder sichtbarer werden", sagt die Aktivistin Judith Amler. "Unsere Forderungen haben sich ja nicht erledigt." Die 35-Jährige aus Rosenheim ist im Koordinierungs-Kreis von Attac Deutschland. Sie leitet gleich einen Workshop zum Thema Rechtspopulismus und Antifeminismus. Das Kongressthema EU habe sich die letzte Basisversammlung gewünscht, erzählt sie.

Die Linke ist in der Europapolitik gespalten. Die einen wollen die EU reformieren, die anderen eine neue transnationale Organisation aufbauen, und manche wollen zusammen mit den Nationalstaaten auch gleich deren Zusammenschlüsse abschaffen.

Auf dem Kasseler Campus hören die 650 Teilnehmer Experten zu und diskutieren über die Türkei, die Demokratisierung der EU oder den Fiskalpakt. Viele Besucher sind seit der Gründungsphase dabei. "Damals war es aber noch nicht so organisiert", sagt eine aus dem Sauerland Angereiste. Vor 20 Jahren gab es bei den Veranstaltungen noch keine Dolmetscherkabinen, kein Wasserflaschen-Wiederverwendungs-System und erst recht keinen Livestream.

Die Finanzkrise 2007 brachte einen Wachstumsschub

1998 starteten Kritiker des globalen Finanzmarkts in Frankreich die Bewegung "Association pour une taxation des transactions financières pour l'aide aux citoyens" ("Vereinigung für eine Besteuerung von Finanztransaktionen im Interesse der Bürger"), um eine Tobin-Steuer durchzusetzen. Eine solche Steuer würde auf alle grenzüberschreitenden Geldtransfers der Welt erhoben. Das soll die Spekulation auf Währungsschwankungen eindämmen, weil sie sich kaum noch rentieren würde. Heute ist die Forderung einer Finanztransaktionssteuer im Mainstream angekommen.

Die Aktivisten weiteten ihr Themenspektrum schnell auf allgemeine Globalisierungskritik aus. Das Netzwerk wuchs auf mehr als 90 000 Menschen und Organisationen in mindestens 40 Ländern - wobei Deutschland mit großem Abstand die meiste Masse ausmachte, hier lebt ein Drittel aller Mitglieder. Es wurden Vereine angemeldet, Gremien gegründet, Büros gemietet, Mitgliedsausweise gedruckt. Die Globalisierungskritik ließ sich hinter dem Schreibtisch nieder.

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Institutionalisierung nennt man das, es passiert mit vielen Bewegungen. Aus der Umweltbewegung in Deutschland sind etwa der BUND und die Grünen hervorgegangen.

Bei Attac brachte die Finanzkrise 2007 einen Wachstumsschub, doch seit 2014 stagniert die Mitgliederzahl bei knapp 29 000. Der Schwung ist raus.

Anders als andere Vereine und Parteien behält Attac die Arbeitsweise von früher bei. Zwar gibt es jetzt Regionalgruppen, AGs, Kreise und Beiräte, aber all diese Gremien entscheiden nach dem Konsens-Prinzip. "Wenn jemand Bauchschmerzen hat, gibt es eben keine Entscheidung", sagt Amler. Alles andere sei "Unterdrückung von Minderheiten".

Nicht immer kommt Einstimmigkeit zustande. Das Festhalten am Konsens, der Versuch einer Basisdemokratie von oben, lähmt Attac. Andererseits ist es einer der Gründe, aus denen Attac nach 20 Jahren immer noch als Bewegung wahrgenommen wird.

"Das ist ein Etikettenschwindel", sagt Dieter Rucht, Soziologe und Mitgründer des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin. "Attac ist keine Bewegung, es ist eine politische Organisation wie andere auch."

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Rucht ist selbst Attac-Mitglied und saß jahrelang im wissenschaftlichen Beirat des Netzwerks. Vor wenigen Monaten ist er aus dem Gremium ausgetreten. Warum? Der emeritierte Professor räuspert sich. Das sei eine längere Geschichte.

Zusammengefasst geht sie so: Unter den mehr als hundert Wissenschaftlern geben einige wenige den Ton an, deren politische Haltung Rucht nicht teilt. Hinzu komme, dass die Wortmeldungen des Gremiums nicht wissenschaftlich unterfüttert seien.

Die Organisation Attac "ist nicht tot und geht auch nicht unter, aber sie dümpelt vor sich hin", sagt Rucht. "Es gibt keinen Mitgliederzuwachs, die Finanzen stagnieren, und die Präsenz aus der Frühphase ist geschwunden. Auch in anderen Ländern ist Attac im Rückgang."

Es fehlt der Nachwuchs und die Diversität

Über diesen Rückgang wundert er sich kaum. Geldpolitik sei "ein hartes Brot", das Aktivisten kaum beeinflussen könnten. "Von außen kann man da nur kritisieren, aber nicht intervenieren." Außerdem fehle die finanzpolitische Expertise.

In Kassel versammelt sich durchaus Expertise. Über "Alternativen zu Neoliberalismus und Austerität" diskutieren der Ex-Chef des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, eine bekannte österreichische Aktivistin, ein in Paris lehrender Wirtschaftswissenschaftler und ein hochrangiger Gewerkschafter. Hinterher stellen sieben Zuschauer und zwei Zuschauerinnen Fragen. Ihr Altersschnitt ist deutlich über 50.

In einer von Attac in Auftrag gegebenen Studie schreibt die Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Gremien seien "von einem hohen Durchschnittsalter und der Überzahl männlicher Aktiver geprägt". Das Ungleichgewicht bedeutet nicht nur, dass der Nachwuchs ausgeht. Wenn die Diversität fehlt, ist der Anspruch nicht erfüllt, für die gesellschaftliche Basis zu sprechen.

Beim Thema Hambacher Forst sind sich alle einig

Institutionalisierung, komplexe Themen, mangelnde Diversität: Kann Attac seine Probleme lösen? Der Protestforscher Rucht meint, das Netzwerk werde den verlorenen Einfluss nicht zurückgewinnen. "Der Aufruf 'Leute, kriegt den Hintern hoch' nützt nichts."

Die Aktivistin Amler verweist darauf, dass Attac zwar gerade nicht mit einer Großkampagne präsent sei, sich aber immer noch "an ganz vielen Stellen" engagiere.

Auch Amler schmerzt die fehlende Vielfalt. Sie verweist auf Quotenregelungen und andere Projekte. "Um junge Leute anzulocken, organisieren wir andere Veranstaltungen, wo es kreativer zugeht als beim Kongress", sagt sie. Da gehe es um Themen, für die sich die Jugend interessiere, Umweltschutz zum Beispiel.

Vor der Podiumsdiskussion am Samstagabend berichtet der Moderator vom neuen Protest im Hambacher Forst: "Es waren circa 50 000 Menschen auf der Demonstra ..." Der Rest geht im Jubel unter. Dann verliest er eine Erklärung, die mit einem Gruppenfoto an die Hambi-Neubesetzer geschickt werden soll. Niemand hat Einwände. Dieses Mal herrschen Konsens, Solidarität und Enthusiasmus.

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