Glenn Greenwald vor dem EU-Parlament:Missionar für das Recht auf Rebellion

Glenn Greenwald, the blogger and journalist who broke the U.S. NSA surveillance scandal, arrives to an exclusive interview with Reuters in Rio de Janeiro

Aus seiner Wahlheimat Brasilien sprach der US-Journalist Glenn Greenwald heute per Videoschalte mit EU-Abgeordneten. Dieses Foto zeigt ihn im Juli 2013 in Rio de Janeiro - der Rucksack enthält angeblich Festplatten mit dem Material von Edward Snowden.

(Foto: REUTERS)

"Die NSA will weltweit alle Kommunikation überwachen": Per Videoschalte spricht Journalist Glenn Greenwald zu Europa-Abgeordneten über die Geheimdienst-Affäre. Er schildert die Gefahren von grenzenloser Überwachung für die Demokratie und kündigt weitere Enthüllungen an. Europa fordert er auf, dem Mann zu helfen, der allen die Augen geöffnet habe: Edward Snowden.

Von Matthias Kolb

Glenn Greenwald sitzt vor einer holzgetäfelten Wand in seinem Haus in Rio de Janeiro. Er trägt eine gelbe Krawatte zum dunklen Anzug und blickt selbstsicher in die Videokamera. Der 46-jährigeJournalist ist der Stargast dieser Sitzung der "Sonderuntersuchung", die das Europaparlament zum NSA-Skandal einberufen hat. Seit einem halben Jahr versetzt Greenwald, der mit der Dokumentarfilmerin Laura Poitras als Erster Zugang zu den Geheimdokumenten von Edward Snowden bekam, die Welt mit seinen Artikel über die Aktivitäten der National Security Agency in Erstaunen.

Seitdem hat er hunderte TV-Auftritte und Interviews hinter sich gebracht. Entsprechend eloquent wendet sich der Amerikaner an die Abgeordneten. Es habe eine "Lawine" an Artikeln gegeben, von denen jeder einzelne wichtig gewesen sei. Doch womöglich sei der Kern verschüttet worden: "Die NSA und ihr britischer Partner GCHQ wollen weltweit alle Kommunikation überwachen. Sie wollen die individuelle Privatsphäre zerstören."

Greenwalds Statement ist gespickt mit solchen Sätzen, die an Klarheit kaum zu überbieten sind. Aus öffentlichen Aussagen sowie aus internen Dokumenten der NSA und deren Partnern aus den Five-Eyes-Staaten gehe dieser Plan hervor. Ständig werde dort als Ziel genannt "Collect it all" (Sammel alles), "Exploit it all" (Werte alles aus) oder "Know it all" (Wisse alles). Die Agenten seien "besessen" davon, jene "Nischen" der globalen Kommunikation aufzuspüren, in denen es noch Geheimnisse gebe. Seit US-Behörden darüber nachdenken, Internet- und Handy-Nutzung in Flugzeugen zu erlauben, denke die NSA darüber nach, auch über den Wolken Informationen abzusaugen.

In vielen Interviews mit ausländischen Medien sei er gefragt worden, was denn die NSA an Staaten wie Schweden oder Brasilien so interessant fände. Das sei die falsche Frage: "Die Geheimdienstler brauchen keinen Grund. Die Tatsache, dass zwei Menschen reden, reicht, um aufmerksam zu werden."

"Es wird weitere Enthüllungen geben"

Ausgiebig spricht er über das abgehörte Mobiltelefon von Bundeskanzlerin Merkel. Die Reaktion der Bundesregierung ("Solange die Bürger abgehört werden, wiegeln wir ab. Wenn unsere eigene Privatsphäre betroffen ist, handeln wir Politiker und protestieren") sei ganz typisch gewesen: Auf Apathie folge Wut.

Im NSA-Hauptquartier in Fort Meade, wo die Agenten selbst noch über das Ausmaß von Snowdens Dokumente-Sammlung rätseln, wird Greenwalds folgende Ankündigung nicht unbemerkt bleiben: Es werde in naher Zukunft weitere Enthüllungen geben. Allerdings dauere es seine Zeit, die "komplizierten" Sachverhalte genau zu prüfen und die entsprechenden Berichte mit Partnermedien zu schreiben.

Der Auftritt von Glenn Greenwald zeigt, dass er sich vom Journalisten zu einem Aktivisten mit eigener Mission verwandelt hat. Um seine Botschaft möglichst weit zu verbreiten, folgt er ausgerechnet den Regeln jener Mainstrem-Medien, die er für ihren fehlenden Mut verachte. "Du musst lernen, das Spiel mitzumachen. Also ziehe ich einen Anzug an und rede in griffigen Parolen. Wenn man ein Anliegen hat und an politische Werte glaubt, dann ist man verpflichtet, seinen Einfluss zu maximieren", sagte er jüngst dem Rolling Stone.

Dauer-Überwachung als Gefahr für Demokratie

Heute ist der Sitzungssaal JAN 2Q2 im Brüsseler Europaparlament Greenwalds Bühne und dort warnt er eindringlich vor den langfristigen Folgen, wenn eine Gesellschaft ihr Recht auf Privatsphäre nicht verteidige. "Wenn wir wissen, dass uns jemand zuschaut oder zuhört, dann verhalten wir uns anders. Wir handeln so, wie es die Mehrheit von uns erwartet. Wir werden zu Konformisten." Eine freie Gesellschaft brauche diesen Schutzraum, um Grenzen zu testen, kreativ und rebellisch zu sein, um ihre Politiker zu kritisieren. Diesen Wert gelte es zu wahren.

Das Urteil eines US-Bundesrichters, der die grenzenlose Sammlung von Telefon-Metadaten von US-Bürgern kürzlich für verfassungswidrig erklärte, bezeichnet Greenwald als "wichtigen Schritt". Alle Sicherheitsexperten seien sich einig, dass sich aus diesen Metadaten (wer telefoniert wann mit wem, und zwar wo und wie lange) mehr Informationen herausdestillieren ließen, wenn sie über Jahre hinweg gespeichert würden.

Auch ohne die Inhalte der Gespräche zu kennen, lasse sich schnell herausfinden, ob jemand HIV-positiv sei oder eine Abtreibung plane - allein anhand der Nummern, die er oder sie gewählt habe. Ein Blick in die Geschichtsbücher (das FBI beobachtete Bürgerrechtler wie Martin Luther King und suchte nach kompromittierendem Material) zeige, dass ein Missbrauch dieser Informationen "unvermeidlich" sei, so Greenwald. Er verweist dabei auf jene NSA-Unterlagen, wonach der Dienst überwacht, ob Dschihadisten Porno-Seiten besuchen würden - um diese moralisch zu diskreditieren.

Greenwalds knapp halbstündiges Statement endet mit einem eindringlichen Plädoyer: "Es gibt nur einen Grund, warum wir diese wichtige Diskussion führen. Es liegt an der mutigen Entscheidung von Snowden, der vieles aufgegeben und alles riskiert hat, um uns zu informieren."

Er appelliert an Europas Regierungen, Snowden zu schützen und Asyl zu gewähren. Für den 46-jährigen Greenwald steht es außer Frage, dass seine Quelle Snowden ein klassischer Whistleblower sei, der Missstände aufgedeckt habe - dies sei nach dem jüngsten Urteil aus Washington noch eindeutiger.

Für den grünen EU-Abgeordneten Jan Philipp Albrecht lässt der Auftritt von Glenn Greenwald nur einen Schluss zu: "Diese Anhörung hat gezeigt, dass Rechtsstaat und Bürgerrechte als Ganzes in Gefahr sind." Im Gespräch mit Süddeutsche.de fordert er "alle Demokratinnen und Demokraten in Europa" auf, Verantwortung dafür zu übernehmen, "den Zeugen Edward Snowden und die Journalisten zu schützen, die diese totalitäre Massenüberwachung durch die Geheimdienste von USA und EU offengelegt haben".

Als "beunruhigend" bezeichnet der CDU-Europaabgeordnete Axel Voss die Vorstellung, dass Geheimdienste Telefon-Metadaten jahrelang speichern würden und diese möglicherweise gegen Regierungskritiker verwenden könnten. "Ich glaube aber nicht, dass sich die NSA heute mit Alltagsdingen von uns Bürgern beschäftigt", so Voss zu Süddeutsche.de. Dafür reiche ihr Personal nicht aus und der Fokus liege wahrscheinlicher bei Fragen der nationalen Sicherheit. Die Herausforderung sei jedoch klar: "Wir müssen überlegen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und wie wir Privatsphäre und Sicherheit ausbalancieren."

Mobilfunknetz kaum vor Überwachung geschützt

Vor Greenwalds Video-Auftritt hatten die Abgeordneten weitere Experten angehört. Dabei stellte Christopher Soghoian von der US-Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) trocken fest, dass Europas Mobilfunknetze nicht sicher seien - weder vor amerikanischen noch vor russischen oder chinesischen Hackern. So hätten mehreren Medien berichtet, dass auch Briten, Russen, Chinesen und Nordkoreaner das Handy von Kanzlerin Angela Merkel angezapft hätten.

Es sei Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass auch die Kommunikation über Mobilfunk abhörsicher gemacht werde. In den Augen des Computerwissenschaftlers Soghoian ist es heuchlerisch, wenn Regierungen so tun würden, als seien sie überrascht über die Enthüllungen: "Sie wissen, dass man Handygespäche abhören kann, denn sie haben diese Geräte für ihre Sicherheitsbehörden angeschafft."

Hier sei eine Entscheidung über die Prioritäten nötig: "Es gibt kein System, das sicher vor Kriminellen und ausländischen Diensten schützt und das nur die eigene Polizei ausnutzen kann." Es sei gut, dass Tech-Firmen wie Google und Facebook ihre Sicherheitsvorkehrungen nun verschärfen würden und von der Obama-Regierung mehr Transparenz fordern. Man dürfe sich jedoch keine Illusionen machen, warnt der ACLU-Experte: "Weil diese Firmen ihren Umsatz mit Anzeigen machen, wollen viele Daten sammeln. Es ist bisher eine symbiotische Beziehung: Die Unternehmen sammeln Daten und die Regierung kann dann 'shoppen' und anfordern, was sie braucht."

Der skeptischen Schlussbemerkung des Bürgerrechtlers würde sich Glenn Greenwald, der Missionar aus Rio, sicher anschließen. Wollte man das Internet mit einem Haus vergleichen und sich fragen, ob dieses Gebäude zurzeit sicher vor Überwachung sei, so ist für Soghoian nur eine Antwort möglich: "Hier hat noch niemand versucht, überhaupt nur ein Schloss an die Tür zu hängen. Es ist völlig ungesichert."

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