Gleichberechtigung in Deutschland:Fortschritt braucht Struktur

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Bundesfrauenministerin Franziska Giffey bei einer Kundgebung am Equal Pay Day im März dieses Jahres (Foto: dpa)

Die Gleichstellung der Geschlechter ist Verfassungsauftrag. Doch sie geht schleppend voran. Auch weil dafür die politischen Instanzen fehlen.

Gastbeitrag von Maria Wersig

Die Gleichstellung von Frauen und Männern war der großen Koalition in ihrer Halbzeitbilanz diese Woche kaum der Rede wert. Kein Wunder: Von den wenigen angekündigten Vorhaben ist bisher kaum eines umgesetzt.

Deutschland sieht sich international stets gern in der Vorreiterrolle. Doch wenn es um das Geschlechterverhältnis geht, gibt sich die Politik hierzulande mit einer strukturellen Rückständigkeit zufrieden, die für Frauen schmerzhafte Folgen hat: Laut einer Studie des Bundesfrauenministeriums haben nur zehn Prozent der Frauen zwischen 30 und 50 ein eigenes Netto-Einkommen von mehr als 2000 Euro - im Vergleich zu 42 Prozent der Männer in diesem Alter. Das eigene Alterseinkommen von Frauen liegt 60 Prozent unter dem der Männer. Im Bundestag und nach den letzten Landtagswahlen ist der Anteil an Parlamentarierinnen rückläufig.

Geschlechtsspezifische Ungleichheit wirkt sich auf Lebenschancen aus. Deshalb ist Gleichstellungspolitik auch kein exotisches Hobby oder eine Luxusveranstaltung für ambitionierte Frauen. Sie muss ein vollwertiges Politikfeld werden.

Zunächst bedeutet das ganz profan die Einführung von eindeutigen Zielvorgaben und Erfolgskriterien. Gleichstellung ist eigentlich ein klassisches Querschnittsthema. Sie betrifft Umweltpolitik oder Verkehr, Stadtplanung, Arbeitsmarkt, Steuer- oder Gesundheitspolitik. Auch das Ziel Bürokratieabbau ist ein solches Thema. Es wird aber mit ganz anderem institutionellen Nachdruck verfolgt: Der Nationale Normenkontrollrat prüft zum Beispiel die Folgekosten von Gesetzen für Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Verwaltung. Eine vergleichbare ausgestattete Instanz, die Gleichstellungsfolgen prüft, gibt es nicht.

Ich beschäftige mich seit 20 Jahren mit dem Thema und sehe in Deutschland vor allem viele engagierte Menschen, die ausgestattet mit sehr geringen Ressourcen versuchen, Schritt für Schritt unter schwierigen Bedingungen und hohem persönlichen Einsatz Fortschritte zu erarbeiten. Das gilt für Zivilgesellschaft, Wissenschaftlerinnen, Politikerinnen und Gleichstellungsbeauftragte. Die Politik belässt es dabei, Gleichstellung als Fleißarbeit zu behandeln und weitestgehend an ein Frauenministerium zu delegieren, dem es an nötigen Stellen und Mitteln fehlt. Der Fortschritt verhungert so gewissermaßen am langen Arm.

Ein eigenes Institut könnte Gleichstellunsgpolitik wissenschaftlich unterfüttern

Frauenverbände fordern schon lange die Bildung eines unabhängigen Instituts, um zielorientierte und wissensbasierte Politik zu ermöglichen. Ein solches Institut könnte das vorhandene Wissen zu den Aspekten der Geschlechterungerechtigkeit bündeln und die Auswirkung der Gesetzgebung auf Frauen überwachen: Wie wirkt sich die Sozialgesetzgebung auf Frauen aus? Wie kann man das Armutsrisiko alleinerziehender Frauen mindern? Von einer wissenschaftlich arbeitenden Stelle, die alle Ressorts bedient, könnten konkrete Umsetzungsstrategien formuliert werden. Blinde Flecken wie sie bei manchen Themen herrschen, würden vermieden: Der viel beschworene digitale Wandel etwa hat auch Auswirkungen auf die Geschlechtergerechtigkeit. Ob es um den Strukturwandel auf dem Arbeitsmarkt geht, die Diskriminierung durch Algorithmen oder digitale Gewalt, die sich häufig mit besonderer Vehemenz an Frauen richtet. Es genügt nicht, dass diese Aspekte nur im nächsten Gleichstellungsbericht aufgegriffen werden.

Tatsächlich stehen eine ressortübergreifende Gleichstellungsstrategie mit einem Aktionsplan sowie ein unabhängiges Bundesinstitut für Gleichstellung im Koalitionsvertrag. Doch in der Halbzeitbilanz kommen Frauen nur im Zusammenhang mit Gewaltschutz vor und bei Vorhaben zur Quote.

Die schwedische Regierung zeigt, wie es anders gehen kann: Hier werden klare Ziele durch eine Regierungseinrichtung für Gleichstellung begleitet. Gender Mainstreaming und Gender Budgeting sind selbstverständliche Instrumente der politischen Steuerung. Mit dem Ergebnis, dass die Chancengerechtigkeit zwischen den Geschlechtern in keinem Land der Welt höher ist.

All das sieht der Gesetzgeber in Deutschland längst vor. Vor 25 Jahren wurde der Gleichberechtigungsgrundsatz in Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes um einen Satz ergänzt: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin." Damit sollte das Ideal an die soziale Wirklichkeit geknüpft werden. Von der Umsetzung dieses Verfassungsauftrags ist der Staat heute weit entfernt. Dabei wäre sie ein großer Fortschritt - nicht nur für Frauen, sondern für die gesamte Gesellschaft.

Professorin Maria Wersig ist Präsidentin des Deutschen Juristinnenbunds

© SZ vom 09.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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