Die Ehe ist älter als der Staat, aber sie hat schon bessere Tage gesehen. Es gibt sie natürlich noch, aber sie gilt nicht mehr so viel; rechtlich nicht, gesellschaftspolitisch auch nicht. Die Ehe ist etwas eher Innerliches geworden. Wenn in politischen Debatten von einer Institutionenkrise die Rede ist, denkt man an Parlamente und Parteien, an Kirchen und Gewerkschaften. Die Institution Ehe ist mindestens so in der Krise wie diese. Sie hat ihre Exklusivität und die Legitimität der Normalität, die sie lange genossen hat, eingebüßt.
Man kann das sehr bedauern, aber es ist ein Faktum: Die Ehe hat ihren alten Wert verloren. Das Ehegattensplitting versucht diesen Wert vergeblich zu verteidigen.
Der Streit um das Ehegattensplitting ist der Institution Ehe vorläufig letztes Gefecht; sie wird es verlieren. Die exklusive steuerliche Privilegierung der klassischen Ehe ist anachronistisch geworden, weil sich Familie nicht mehr über die Ehe, sondern über die Kinder definiert. Kinder sind schutzbedürftig, nicht kinderlose Paare. Es gilt also, nicht die blanke Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, sondern die Familien zu fördern, in denen Kinder erzogen und Alte gepflegt werden.
Es wäre falsch, das anachronistische Splitting dadurch zu perpetuieren, dass man es von der klassischen auch noch auf die Homo-Ehe ausdehnt. Dieses Steuerprivileg gehört nicht ausgedehnt, sondern abgeschafft. Natürlich müssen hetero- und homosexuelle Beziehungen gleich behandelt werden. Aber: Eine Gleichbehandlung im Unsinn sollte es nicht geben.
Der Bedeutungsverlust der klassischen Ehe ist mit Händen zu greifen: "Urquell der Erhaltung der Nation", wie dies einst formuliert wurde, ist die Ehe schon lang nicht mehr. Und das bürgerliche Eherecht hat seine Bedeutung nicht mehr in, sondern nach der Ehe; erst bei und nach der Scheidung kommt es kräftig zum Tragen. Zwar heißt es im Bürgerlichen Gesetzbuch noch immer, dass die Ehe "auf Lebenszeit" geschlossen sei. Aus diesem Satz ist aber eine Lüge geworden, oder, wenn man es milder ausdrücken will, ein Beschwörungsversuch. Das Steuerrecht ist ein letzter Trumpf dieses Beschwörungsversuchs; er sticht nicht mehr.
Die Ehe ist heute eine andere Ehe als vor fünfzig Jahren, als das Ehegattensplitting eingeführt wurde. Die Ehe ist nicht mehr, wie damals meistens, Beginn von Familie; immer mehr Ehen sind gewollt kinderlos. Und die nichtehelichen Lebensgemeinschaften sind heute fast genauso normal wie die Ehen. Das Namensrecht ist so konstruiert, dass verheiratete und unverheiratete Paare nicht mehr namentlich zu unterscheiden sind. Das gemeinsame Sorgerecht für Kinder, früher der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau vorbehalten, gibt es heute genauso für Geschiedene und Leute, die nie Eheleute waren. Scheidungen sind so selbstverständlich geworden wie Eheschließungen.
Wie gesagt, man kann das alles bedauern oder nicht - es ist so. Man mag von Werteverlust reden; es handelt sich eher um Werteverlagerung: Der Stellenwert der Ehe nimmt ab, der von Familie nimmt zu; die Sorge der Gesellschaft gilt den Kindern, nicht mehr der Ehe. Die Konzentration auf das Kindeswohl muss in einer Zeit niedriger Geburtenraten nicht wundern.
Zu konstatieren ist eine stillschweigende Verfassungsänderung wie folgt: "Der Staat achtet und schützt alle Lebensformen. Lebensgemeinschaften mit Kindern und Hilfsbedürftigen stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung." Es war dies 1993 der Vorschlag des Theologen und Bundestagsabgeordneten Wolfgang Ullmann zur Neuformulierung des Ehe- und Familienartikels 6 Grundgesetz; Ullmann saß für das Bündnis 90 in der Verfassungskommission, in der nach der deutschen Einheit das Grundgesetz überarbeitet werden sollte. Sein Antrag wurde abgelehnt. Aber Gesellschaft und Rechtsprechung haben ihn angenommen; der Gesetzgeber wird folgen.
Lebensgemeinschaften mit Kindern oder Alten brauchen besondere staatliche Zuwendung - ob mit Familiensplitting oder hohen Freibeträgen. Die Förderung muss jedenfalls so gestaltet werden, dass nicht vor allem Gut- und Großverdiener etwas davon haben. Familienförderung wird heute natürlich dadurch erschwert, dass in Patchwork-Zeiten, in denen sich familiäre Bande kreuzen, verknoten und verwirren, Familie vielfach nur noch für ein "Bündel von Individualrechtsbeziehungen" steht, wie das der Regensburger Familienrechtsprofessor Dieter Schwab formuliert.
Die Sehnsucht nach stabiler Geborgenheit wird in so komplizierten Familienkonstellationen weniger befriedigt als in der klassischen Familie, deren Kern die Ehe war. Aber neue Geborgenheit lässt sich mit dem altem Ehegattensplitting ganz gewiss nicht herstellen.